Der Germanenmythos
Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts

 'Altertums- und Germanenforschung im 19. Jahrhundert', 'Das germanische Altertum im Spannungsfeld von Glaubens- und Wissenschaftstraditionen', 'Das germanische Altertum im Spiegel der Rassenidee' ' so sind die drei Hauptkapitel überschrieben. Das zwar interdisziplinär angelegte, hauptsächlich jedoch geschichtswissenschaftlichen Quellen verpflichtete Buch ist auf die Genese der völkischen Konzeption des germanischen Altertums fokussiert. 'Diese', ich zitiere ausführlich aus der Zusammenfassung, 'unterstellt die Existenz eines im europäischen Norden autochthonen und persistenten, spezifisch germanischen Rassentypus, der die wesentliche Voraussetzung für die nationale Kulturentwicklung gebildet hätte. Die Bewusstwerdung dieser rassengeschichtlichen Grundlagen sei nicht nur für die nationale Standortbestimmung leitend, sondern eröffne darüber hinaus pannationale Perspektiven zu rassen- und sprachverwandten Völkern [...] Die deutsche Altertumsforschung erwies sich während des 19. Jahrhunderts [...] als ein von Konflikten und Kontroversen geprägtes Arbeitsfeld. Zum einen stand der nationalromantische Anspruch nach der Identität von Germanen und Deutschen durch die Konkurrenz zu Kelten und Slawen in mehrerlei Hinsicht in Frage. Zum anderen genoß das germanische Altertum im nationalen historischen Selbstverständnis nur eine hohe Wertschätzung, sofern die kulturgeschichtliche Priorität von Rom, Griechenland und dem Orient akzeptiert wurde.' (S. 343f.)
Mit großer Detailverliebtheit geht Wiwjorra auf den zeitgenössischen Diskurs über die Rasse ein und gelangt zu folgendem Ergebnis: 'Die Vorstellung einer sich über lange Zeiträume erstreckenden Rassenevolution in geographisch isolierten Räumen mit klimatisch extremen Bedingungen führte etwa in den 1870er Jahren zur Annahme einer Evolution des dem 'germanischen Typus' [= 'nordischen Typus'] zugeschriebenen Merkmalsspektrums im Norden. Mit dieser Ursprungsthese, die in Ansätzen bis in die 1820er Jahre zurückreicht, war die Voraussetzung für ein spezifisch völkisches Geschichtsdenken gegeben, weil sie eine Opposition gegen die historiographische Prämisse 'ex oriente lux' erlaubte, die angeblich den nationalen Selbstwert minderte. Mit der Unterstellung einer autochthonen Entwicklung konnte die für das völkische Denken konstitutive Vorstellung einer Einheit von Herkunft, Rasse, Kultur und Religion formuliert werden.' (S. 345f.) Das Licht leuchtete jetzt aus dem Norden.
Man wird dieses Buch nicht nur den Historikern/Historikerinnen zur sorgfältigen Lektüre empfehlen, sondern auch den Sprach- und Literaturwissenschaftlern/-wissenschaftlerinnen, namentlich den Germanisten/Germanistinnen, weil sie ohne das hier ausgebreitete Hintergrundwissen den auch in ihren Wissenschaften und in ihren Quellen eifrig gepflegten Germanen-Diskurs nicht begreifen können.