Der lange Abschied vom Bürgertum
Ein Gespräch mit Frank A. Meyer

Wenn man auf den Umschlag des schmalen und unauffälligen Bändchens schaut, meint man schnell erfassen zu können, um was es sich handelt: Drei Bürger unterschiedlicher Prägung liefern einen Abgesang auf das (deutsche) Bürgertum, werden den Untergang vielleicht als zwangsläufig kennzeichnen, sicher bedauern, letztlich aber wohl resignativ hinnehmen. Ganz daneben liegt diese Vermutung nicht, doch ist das Streitgespräch zwischen den drei Publizisten bei weitem mehr: eine tour d'histoire durch die Geschichte des Bürgertums der letzten 100 Jahre, ein Ritt durch die Selbstzweifel, Verluste, Versäumnisse und Tugenden jener Schicht, die Frank A. Meyer immer wieder als Grundpfeiler der Demokratie verteidigt. Das intelligente Gespräch, das die bekannten Grundpositionen der drei Teilnehmer stets aufs neue aufnimmt und dennoch weiterführt, legt offen, wie sehr sich die deutsche und die schweizer Erfahrung hinsichtlich des Bürgertums unterscheidet: Der Schweizer Meyer beharrt stets unter Rückgriff auf die Geschichte seines Landes darauf, daß ein Versagen des Bürgertums nicht zwangsläufig gewesen sei, während Fest und Siedler auf die Sonderrolle des kleinen Nachbarn verweisen, der unbehelligt von England und Frankreich seine bürgerliche Kultur habe aufbauen und bis heute bewahren können.
Ihren Ausgang nehmen die drei bei der Definition dessen, was ein Bürger überhaupt sei - einen Kanon an Werten müsse er haben, stellt Siedler fest, um von Fest konkretisiert zu werden: 'Zuverlässigkeit, Gesetzestreue, Pflichtbewusstsein und was man geradezu als den Inbegriff bürgerlicher Tugenden bezeichnet - Staatsernst, wie Sternberger das mit Liebe nannte, also die Auffassung, daß es zu den Verrichtungen eines vollständigen Lebens gehöre, ein guter Staatsbürger zu sein.' (S. 11) Betrachten Meyer, Siedler und Fest dies noch konsensual, so streiten sie leidenschaftlich darüber, ob es diesen Bürger noch gebe bzw. ob er letztlich als Typus überdauern könne. Während Siedler und Fest eher pessimistisch sind und nur noch Rudimente an Bürgerlichkeit erhalten sehen, denen in der einen oder anderen Form ebenso das Verschwinden drohe, bleibt Meyer erfrischend kämpferisch und bringt den Bürger und seine Tugenden gar gegen das heute allgegenwärtige Primat der Ökonomie (und ihre Vertreter, die Manager) als notwendig in Stellung: 'Wenn es nicht gelingt, werden die Demokraten entmachtet. Es sind bei den Bürgerinnen und Bürgern ja heute schon weitverbreitete Gefühle der Ohnmacht zu beobachten. Die Ökonomie droht mit ihren Gesetzen des Marktes zur totalen Macht zu werden. Bis zur totalitären Macht ist es dann nicht mehr weit.' (S. 126)
Zentral behandeln die drei Diskutanten selbstredend die Rolle des Bürgertums beim Aufstieg des Nationalsozialismus - natürlich nicht, ohne dabei gleichsam im Vorbeigehen Fests prekäre These, beim Nationalsozialismus handele es sich um eine totalitäre Abart des Sozialismus, kontrovers zu diskutieren.
Bürger zu sein und zu bleiben, sich also - im Verständnis der drei Kombattanten - gesellschaftlich einzubringen und zu helfen, 'das Leben in geordneter Freiheit' (Fest, S. 52) zu gestalten, erfordert freilich Kraft und Arbeit: 'Und vielleicht gibt es deswegen keine Bürger mehr, weil das dem einzelnen zuviel abverlangt. Und es bezeichnet geradezu unsere Zeit, daß sich niemand etwas abverlangt.' (Fest, S. 122) Es ist eine der Stärken dieses Gesprächs, daß freilich bei solch düsteren Aussichten nicht stehengeblieben wird, sondern daß sofort (hauptsächlich Meyers) positive Einreden folgen.
Das Büchlein wird kein Leser so schnell aus der Hand legen, wartet es doch mit einer Fülle von Themen rund um die (tragische?) Geschichte des deutschen Bürgertums auf. So ist es unaufdringlich belehrend - nicht zu den kleinsten Lektionen des Buches wird dabei, wie sehr gerade das Gespräch, das Streitgespräch zu den immer unerläßlicher werdenden bürgerlichen Tugenden gehört.