Kulturelle Konsequenzen der “Kleinen Eiszeit”

Die Massenmedien erschrecken uns gelegentlich mit Prophezeiungen über eine herannahende globale Klimaerwärmung infolge zunehmender Abgasemissionen, wobei durch Abschmelzen der Polareises ein Anstieg des Meeresspiegels zu katastrophalen Überschwemmungen führen könnte. Umgekehrt weisen Ozeanographen darauf hin, daß im letzten Jahrfünft der Golfstrom um 30 Prozent abgenommen habe, so daß mit einem Rückgang der 'Warmwasserheizung Europas' eine neue große Eiszeit drohe. Nun haben Meeresforscher in Spitzbergen aber gerade im Januar 2006 einen Wärmerekord in der Arktis festgestellt. Allen diesen Modellrechnungen und den daraus resultierenden Hypothesen über dramatische Veränderungen der Lebensumstände fehlt es an empirisch gesichertenVergleichen mit der Vergangenheit, was schon wiederholt kritisiert wurde. Auch wissen wir wenig über die jeweils subjektiv gefühlten Wärme- und Kälteempfindungen der Menschen in Langzeitaufzeichnungen, die von meteorologischen Messungen oft erheblich abweichen. Dieses Buch weist hier neue Wege: Aufbauend auf Analysen Christian Pfisters zur historischen Klimatologie in Bern und ähnlichen Pionierstudien sowie den originellen Untersuchungen des Saarbrücker Neuzeithistorikers Wolfgang Behringer über die Interdependenzen von Wetter, Hungersnöten und Hexenverfolgungen als Massenangst sowie den Resultaten einer klimageschichtlichen Konferenz 2002 unter Leitung des Direktors des Göttinger Max Planck-Instituts für Geschichte, Hartmut Lehmann, wird hier im Rahmen meist mikrohistorischer Quellenanalysen zunächst die schon früher vorgebrachte These bestätigt, daß nach der letzten erdgeschichtlichen Wärmezeit im Hochmittelalter offenbar mehrere Jahrhunderte einer globalen Abkühlung folgten, die man als 'Kleine Eiszeit' bezeichnet. Doch handelte es sich dabei stets nur um zeitlich beschränkte einzelne Abkühlungsphasen, die von kurzen Wärmeperioden wieder abgelöst wurden. Die neue kulturhistorische Wetterforschung sieht ihre Hauptaufgabe nicht nur darin, die unterschiedlichen Reaktionen auf witterungsbedingte Mißernten, Hungersnöte und Krankheiten, sondern auch die daraus folgenden Anpassungsstrategien der Menschen räumlich zu vergleichen, z.B. den Rückgang der Vegetationsgrenzen mit den Änderungen der landwirtschaftlichen Flächen und Siedlungsgebiete. Der Agrargeschichte und historischen Demographie werden dadurch ganz neue Forschungsimpulse vermittelt, da solche Strukturwandlungen bisher ohne genaue Beachtung der Klimaänderungen bewertet wurden. Wie Behringer in seinem erhellenden Resümee betont, haben diese langfristigen Erfahrungen mit den witterungsbedingten Krisen, die  von den Zeitgenossen früher nur als 'Strafe Gottes für menschliche Sünden' gedeutet wurden, zu ersten Versuchen geführt, sie auch rational zu erklären, was zu einer allmählichen Separierung von Religion und Wissenschaft führte und wieder neue soziokulturelle Wandlungen auslöste. Die hier präsentierten Forschungen zur 'Kleinen Eiszeit' zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert lassen erkennen, wie die witterungsbedingten Krisen mithalfen, die tägliche Nahrung zu stabilisieren, Hygiene und Gesundheit erstmals systematisch individuell wie institutionell zu verbessern, aber auch zugleich die Infrastruktur, den Warenverkehr und die Kommunikation. Dieses wirklich großartige Werk, aus dem verschiedene Disziplinen neue Denkanstöße schöpfen können, regt an, den weitreichenden Folgen gut erkennbarer Klimaverschlechterungen in Politik, Wirtschaft und Technik, aber auch in Literatur und Kunst räumlich komparativ weiter nachzugehen, da hier weitere Grundlagen für die Genese der Aufklärung als geistige Revolution der Neuzeit herausgearbeitet werden können.