Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1815-1870

Die Alltagsgeschichte, seit den 1980er Jahren als selbständiger Zweig aus dem Stamm der Historik entsprossen, befaßt sich notwendigerweise mit so vielen Aspekten der Vergangenheit und ist so eng mit Nachbardisziplinen verästelt, daß sie noch keine genuin akzeptierte definitorische Abgrenzung gefunden hat und  ihre Ziele und Forschungsmethoden untereinander noch immer heftig konkurrieren. Daher ist beiden Editoren zunächst zu danken, daß sie in einer gut überlegten Disposition nicht nur überlieferte Zeugnisse aus vielen alltäglichen Lebenssphären zeiträumlich gut verteilt präsentieren, sondern auch einen neuen gehaltvollen Umriß über Genese, Entwicklung und gegenwärtigen Stand der historischen Alltagsforschung vorangestellt haben. Über die Auswahl zeitgenössischer Äußerungen aus Literatur, Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Reiseberichten, aber auch aus  Publizistik und Eingaben an die Obrigkeit, kann man hier nicht streiten, zumal es sich nur um kurze 'historische Blitzaufnahmen' handelt, die keinen Anspruch auf Repräsentativität beanspruchen können. Aber selbst für den Fachhistoriker bleibt es dennoch erstaunlich, wieviel dunkle Stellen es im eintönig grauen Alltagslebens der Deutschen zwischen den  Napoleonischen Kriegen und der Reichsgründung gegeben hat, die durch diese meist spannend zu lesenden Skizzen erstmals aufgehellt werden.
Die Quellen betreffen Ernährung, Hygiene, Krankheit und Armut, die Arbeitswelt auf dem platten Land und in der Stadt, ferner Ehe, Liebe, Geburt und Tod ebenso wie Bildung bzw. Ausbildung und das religiöse und kulturelle Leben in der arbeitsfreien Zeit sowie die räumliche Mobilität, schließlich auch Orte und Riten der Politik und das weite Feld der inneren und äußeren Konflikte der Menschen. Überall schimmern hier verschiedenste Stimmungen und Bewußtseinslagen durch, wobei keineswegs nur die sozialen Unterschichten  beleuchtet werden, so daß die nur einseitige, oft ideologisch diktierte Sicht einer 'Geschichte von unten' vermieden wird. Die Herausgeber haben zwar die Geburt der modernen Alltagsgeschichte richtig mit dem parallelen Gang der Sozialgeschichte verknüpft und so ihre wichtigsten Merkmale gut nachzeichnen können. Dabei wurde auch vermerkt, daß sie in der älteren Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts einige Vorläufer besitzt.
Kritisch ist hier anzumerken, daß es nicht angebracht erscheint, diese in toto als antiquarisch-populär ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch abzukanzeln. Die beiden Münsteraner Dissertationen von Jasper von Altenbockum über 'Wilhelm Heinrich Riehl 1823-1897'  und von Stefan Haas über die 'Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930', beide vom Rezensenten betreut und 1994 erschienen, sowie die beachtliche Biographie der früher in Münster und heute in Potsdam wirkenden Historikerin Louise Schorn-Schütte über Karl Lamprecht (1984) wurden hier leider übersehen. So kann man z.B. Riehl, was schon Hans Freyer in seiner 'Einleitung in die Soziologie' tat, eindeutig als Mitbegründer der empirischen Sozialwissenschaft und Volkskunde bezeichnen und damit zugleich einer wissenschaftlichen Alltagsgeschichte. Unter anderem führte er in Deutschland die Methodeologie ein, die heute bei den Historikern als 'Oral History' weithin bekannt geworden ist. Aber auch die Erwähnung von Edmund Husserl mit seiner wegweisenden 'Lebenswelttheorie', die von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann weiterverfolgt wurde, aber auch Sigmund Freud mit seiner Psychopathologie des Alltagslebens sowie Max Webers verstehende Soziologie über den Alltag als Glied zwischen Charisma und Rationalität hätten hier wie die Pionierstudien einzelner Mitglieder der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie und Staatswissenschaft (z.B. Karl Bücher) eigentlich einer kurzen Erwähnung bedurft, zumal in  bisherigen wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenfassungen zur Erforschung des Alltagsphänomens (H. P. Thurn, K. Hammerich, R. Grathoff) auf diese Gedankenstränge bereits aufmerksam gemacht  wurde. Im übrigen machte, was hier ebenfalls nachzutragen ist, Werner Conze schon bei der ersten Vorlage seines Konzepts einer Strukturgeschichte in den 1950er Jahren auf die französische 'Annales'-Schule,  die bekanntlich der älteren Leipziger Kulturgeschichte starke Anregungen verdankt, als Vorbild für eine neue Geschichtsbetrachtung aufmerksam.  Später gab er noch vor seinem Tod als Vorsitzender des Deutschen Historikerverbandes dem Rezensenten den Rat, auch die Alltagsgeschichte als Form einer 'neuen Kulturgeschichte' weiter zu intensivieren - an dieser Quellensammlung hätte er jedenfalls seine helle Freude gehabt.