Die Herausforderung der Globalisierung
Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860-1914

Die seit der europäischen Expansion des 16. Jahrhunderts schrittweise Herausbildung von weltwirtschaftlichen Netzwerken erfuhr im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen kräftigen Schub als Folge der stark gefallenen Transportkosten, der weltweiten Vernetzung mittels Telegrafie sowie des Wegfalls von Handelsschranken. Innerhalb weniger Jahre sahen sich Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches mit neuen ökonomischen Rahmenbedingungen konfrontiert, ferner mit einem wachsenden Konkurrenzdruck in einzelnen Bereichen, aber auch mit neuen Möglichkeiten in anderen. Unter dem Druck der Verlierer dieser ersten Globalisierungswelle endete an der Wende zu den 1880er Jahren die Ära des Freihandels und es begann eine neue Phase des Protektionismus. Diese weitgehend bekannte Wende eröffnet aus der Perspektive der Globalisierung für den Historiker neue Einsichten. So kreist die vorliegende Dissertation vorrangig um die Frage, inwieweit die ökonomische Globalisierung die Grundbedingungen der deutschen Politik vor dem Ersten Weltkrieg beeinflußt hat. Die Studie versteht sich demnach als Analyse des Verhältnisses von Ökonomie und Politik unter den Bedingungen weltwirtschaftlicher Integration. Konkret zeigt der Autor zunächst in einem sehr aufwendig gestalteten wirtschaftshistorischen, statistisch untermauerten Einführungskapitel anhand der Handels- und Zahlungsbilanz die zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen der deutschen Industrie. Dabei verdienen die Bemühungen des Verfassers um Korrektur der Handelsstatistik hervorgehoben zu werden.
Beginnend mit dem Cobden-Vertrag und der Freihandelsära verfolgt Cornelius Torp anschließend die politischen Entscheidungsprozesse und die in sie involvierten Akteure während der Phase des Umbruchs zum Protektionismus, des 'Neuen Kurses' unter Caprivi sowie des Bülow-Tarifs. Dem folgen abschließend mit Blick auf deutsche Interessen und Möglichkeiten zwei Länderstudien über Rußland und die USA. Die gesamte Untersuchung verdeutlicht, daß der Außenhandel für die deutsche Volkswirtschaft immer mehr an Bedeutung gewann, wobei sie beim Bezug von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und industriellen Halb- und Fertigprodukten in zunehmendem Maße vom Ausland abhängig wurde. Gewinner dieser Entwicklung waren an vorderster Stelle der Maschinenbau, die Chemische und die Elektroindustrie. Hauptverlierer war dagegen die deutsche Landwirtschaft, die unter dem Druck der Globalisierung ihre protektionistische Interessenorganisation aufbaute, gleichzeitig den Staat um Hilfe anrief, wobei sich die Politiker von dieser Hilfeleistung Unterstützung durch die von der Landwirtschaft abhängigen Wähler versprachen. Im Gegensatz dazu bestand z. B. für die großen Konzerne der Chemischen und der Elektroindustrie kaum eine Notwendigkeit, sich gegen handelsbeschränkende Maßnahmen lautstark zu wehren. Sie besaßen mit Hilfe von Direktinvestitionen im Ausland ganz andere Möglichkeiten, auf die veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren. Sehr gut arbeitet der Verfasser heraus, wie sich der Spielraum der preußisch-deutschen Regierung unter dem Druck der Globalisierung und den damit verbundenen ökonomischen Interessen zunehmend verengte und besonders gegenüber den USA fast jede Handlungsautonomie verlor. Er zeigt zudem, wie es angesichts der Größe des von dem Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte betroffenen Bevölkerungsanteils und des Fehlens eines sozialen Sicherungssystems wohl keinerlei Alternative gab, den Globalisierungsverlierern zu helfen. Insgesamt eine lesenswerte Studie mit einem modernen Ansatz.