Das Kaiserreich transnational
Deutschland in der Welt 1871-1914

Trotz Bildung des deutschen Nationalstaates im Jahre 1871 mit eigenen Rechtsnormen, Staatspraxis und anderen Abgrenzungen gegenüber den übrigen Ländern blieb das Kaiserreich ein offenes Land, drängte mit seiner wirtschaftlichen Dynamik in die Welt, wie es andererseits etwa auf kulturellem Gebiet zum Magneten für andere Länder wurde. Der ökonomisch bedingte Globalisierungsschub, der die Welt um die Wende zum 20. Jahrhundert erfaßte, rückte alle Länder, hoch industrialisierte wie weniger entwickelte, in ein engeres Verhältnis zueinander. Dabei gerieten ferne Kontinente immer mehr in das Wahrnehmungsfeld der Deutschen. Politiker wie Geschäftsleute dachten zunehmend in globalen Kategorien: Weltwirtschaft, Weltpolitik, Weltmacht. Trotz des Wissens um diese Sachverhalte haben die Historiker die Geschichte dieses Zeitraums vor allem aus nationalstaatlicher Perspektive betrachtet, als Nationalgeschichte mit dem Nationalstaat als Analyserahmen. Der vorliegende Sammelband versucht, diese nationalgeschichtliche Sichtweise durch eine 'transnationale' zu ergänzen. Er geht ein auf die unterschiedlichen 'Beziehungen und Konstellationen, welche die nationalen Grenzen transzendieren', wobei solche Beziehungen 'bilateral oder multilateral, gleichgewichtig oder asymmetrisch' sein können. Sie treten auf als Nah- wie als Fernbeziehungen. Fast alle Autoren der 14 Aufsätze dieses Bandes nehmen Anregungen auf aus den modernen Postcolonial Studies sowie aus den Untersuchungen über die im Zuge der Globalisierung aufgebauten transnationalen Vernetzungen. Es geht dabei z. B. um Fragen nach dem Transport von Bedeutungselementen durch den überall im Kaiserreich vorzufindenden Kolonialwarenladen, den Orientteppich oder die Menschen- und Völkerschauen.
Aus wirtschaftshistorischer Sicht vermittelt der Aufsatz von Nils P. Petersson über das Kaiserreich in Prozessen ökonomischer Globalisierung die meisten Erkenntnisse, wobei der Autor anhand der vielgestaltigen Netzwerkbildung aufzeigt, wie eng das Deutsche Reich der Jahrhundertwende in die globale Wirtschaft integriert war. Sven Beckert demonstriert am Beispiel von Bemühungen in der deutschen Kolonie Togo um den Anbau von Baumwolle, wie durchlässig nationale Grenzen um 1900 waren und welche Verbindungen Kaufleute, Beamte, Arbeiter und Sklaven zwischen entfernten Ländern schufen. Die meisten Aufsätze behandeln die Verbindungen zwischen dem Deutschen Reich und den Kolonien, wobei auch Mitteleuropa und Polen als koloniales Projektionsfeld zu den Themen gehören. Philipp Ther untersucht in diesem Zusammenhang Polen und slavophone Minderheiten, ferner Helmut Walser Smith die Welt an Preußens Rändern. Alexander Honold analysiert die im Kaiserreich in Mode gekommenen Menschen- und Völkerschauen, die u. a. feine Damen aus der wilhelminischen Gesellschaft angesichts von am Körper tätowierter Birmanesen dazu animierten, sich derartige fremdartige Zeichen in die Haut stechen zu lassen. In der Regel aber ging diese Form des kulturellen Austausches über voyeuristische Blickkontakte nicht hinaus. Folgenreicher war sicherlich der Export von reichsdeutschen Institutionen nach Afrika, z. B. auf dem Gebiet des Rechts und der Bürokratie. Andreas Eckert und Michael Pesek zeigen für Deutsch-Ostafrika, wie bescheiden diese Exporte ausfielen, selbst als nach dem Maji-Maji-Krieg unter Bernhard Dernburg eine deutlich verbesserte, auf Erhaltung ausgerichtete Kolonialpolitik einsetzte. Der Band vermittelt eine Menge Anregungen, zeigt aber auch, daß die europäischen Historiker ihre Forschungen, die unter der Perspektive der Globalisierung laufen, noch sehr verhalten angehen.