Und keine Schlacht bei Marathon
Große Ereignisse und Mythen der europäischen Geschichte

Dieses Buch, aus  Studium generale-Vorlesungen an der Universität Marburg 2002/2003 hervorgegangen, verfolgt das Ziel, nach den großen Strömungen in Richtung zum Strukturalismus, zur Kritischen Theorie im Sinn von Jürgen Habermas und zur Historischen Sozialwissenschaft mit ihren betont abstrahierenden und theoriebefrachteten Geschichtsauffassungen den Blick der Historiker wieder mehr auch auf das traditionsreiche Feld der primär an den Realien orientierten Geschichte zurückzulenken. Dabei geht es aber nicht um das alte Konzept 'Männer und Zeiten' (Erich Marcks 1911), sondern die immer noch spannende Frage, wie sich eine mehr sinnstiftende und eine mehr akribisch quellenorientierte Vergangenheitsanalyse kombinieren lassen und wie sehr dabei 'große' dramatische Ereignisse bewußt oder unbewußt zu einer Mythologisierung im genuinen Geschichtsbewußtsein geführt haben, was eine Entfernung von den historischen Tatbeständen brachte. 13 Historiker stellen hier nun von der antiken bis zur zeitgenössischen Geschichte mehr oder weniger gut bekannte historische Ereignisse auf den Prüfstand moderner Forschung und zeigen, daß diese zur allgemeinen historischen Erinnerung gewordenen Geschichtsbilder heute partiell ganz erheblicher Revisionen bedürfen, denn sie wurden von den miterlebenden Zeitgenossen oder von den nachfolgenden Generationen aus vielerlei Gründen unter- oder überschätzt. Um einige Beispiele herauszugreifen: Die Befreiung von Orléans durch Jeanne d’Arc 1429, Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 und der 'Prager Fenstersturz' 1618 als Beginn des Böhmischen Krieges, aber auch die Erstürmung der Pariser Bastille 1789, die Rolle des Generaloberst Fromm beim Attentat auf Hitler 1944 oder die Bedeutung des Algerienkriegs (1954-1962) für die deutsche wie französische Außenpolitik ergeben genauer betrachtet auch für den historisch Gebildeten nun ganz neue Einsichten. Die jeder Generation dienende Geschichtswissenschaft zeigt hier erstaunlich viele Deutungsvarianten und erkennt auch ihre eigene Mitwirkung an den Mystifizierungen. Die Kunst des Historikers kann es nur sein, wie der Herausgeber zu Recht betont, die notwendige Sinnstiftung mit der akribischen Überprüfung anhand der überlieferten Quellen unter Beachtung des großen fortdauernden Strukturwandels zu verbinden. Der Historiker kennt damit, um einen Gedanken Friedrich Meineckes in einer Auseinandersetzung mit Karl Heussi aufzugreifen, keinen vom Erkenntnissubjekt völlig losgelösten Gegenstand wie die Naturwissenschaften, sondern dieser kommt erst in seiner Einbildungskraft zustande. Damit wird sein Forschungsinteresse an der überlieferten Vergangenheit stets durch die jeweilige Gegenwart mit ihren Interessen und durch die Motivation der Fragestellung konstituiert, was letztlich wie bei allen Geisteswissenschaften erst das Thema und Objekt der Untersuchung schafft, wie Hans Georg Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik ('Wahrheit und Methode, 1965) hellsichtig herausgestellt hat. Natürlich ist es müßig, über die ausgewählten Themen zu streiten, da man über die Bedeutung eines großen historischen Ereignisses stets verschiedener Meinung sein kann. Wie sehr historische Fakten und ihre spätere Bewertung auseinanderdriften können, hat sich gerade wieder einmal in der Ausstellung 'Flucht - Vertreibung und Integration in Deutschland nach 1945' im Bonner 'Haus der Geschichte' gezeigt: Entgegen der euphorischen Beurteilung dieser Massenzuwanderung im Rahmen des Gründungsmythos der Bundesrepublik stellt man bei genauer Nachprüfung heute fest, daß die Ostvertriebenen in Westdeutschland oft keineswegs mit offenen Armen aufgenommen wurden, was sicherlich kein Ruhmesblatt war. Diesem höchst lesenswerten Band kann man nur eine Fortsetzung wünschen ' an Themen mangelt es nicht.