Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm

'[...] schreibe mir ja alle Kleinigkeiten, denn was einem zu Haus noch so klein u. trivial schien, wird in der Fremde lieb u. bedeutend.' (Jacob Grimm, Paris, 1. März 1805)

Der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Wilhelm Grimm eröffnet die kritische Neuausgabe des Briefwechsels der beiden Brüder, die von einem derzeit über 40 Mitglieder umfassenden Herausgebergremium unternommen wird. Eine kritische Ausgabe war dringend geboten, weil die Hälfte des Grimm-Briefwechsels noch unveröffentlicht ist, die Mehrzahl der Editionen nicht die Gegenbriefe der Korrespondenten enthält und viele Editionen textlich fehler- und lückenhaft sind. Die Neuausgabe wird auch die Kommentare auf den neuesten wissenschaftlichen Stand bringen. ' Ein Unternehmen das der kritischen Aufmerksamkeit und Bewunderung unserer Gelehrtenrepublik sicher sein kann!
Von den Briefen, die sich die beiden Brüder zwischen 1793 und 1858 schrieben, war bisher mehr als ein Drittel unveröffentlicht. Wer die wissenschaftlichen Arbeiten der Grimms verstehen will, muß auch die Briefe kennen. Dies gehört zur opinio communis unsrer Disziplin. Darüber hinaus geht es jedoch auch um ein Verständnis der frühen Wissenschaftsgeschichte der Germanistik überhaupt. Aber ' und wenn ich Briefe lese, ist mir dies fast das Wichtigste ' es geht um das Verstehen zweier großer Menschen. Wilhelm an Jakob in Paris, Marburg, Samstag den 2. Februar 1805:
'Guter Jakob ich fange hiermit an dir das Wichtigste von jeder Woche zu erzählen, und wenn es auch nicht wichtig ist so willst du es doch gerne lesen hast du gesagt. ' Von den ersten Tagen wie ich dir nichts zu sagen als daß ich sehr traurig war und noch jetzt bin ich wehmüthig und möchte weinen, wenn ich daran denke das du fort bist. Wie du weggingst da glaubte ich es würde mein Herz zerreißen, ich konnte es nicht ausstehen, gewiß du weist nicht wie lieb ich dich habe. Wenn ich Abends allein war meinte ich müstest du aus jeder Ecke hervorkommen.' (S.30)
Zum Vergleich die Edition Schoof aus dem Jahre 1963, die sich allerdings ' anders als die vorliegende Ausgabe ' nicht als eine 'historische, sondern auf eine größere Menge Gebildeter berechnete Publikation' verstand und deshalb 'die heutige Rechtschreibung zu Grunde' legte (Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. Hrsg. v. Herman Grimm und Gustav Hinrichs. 2. Aufl. v. Wilhelm Schoof. Weimar 1963, S. 9). Wie fragwürdig ein solches Editionsprinzip gerade heute ist, das zudem eine sprachwissenschaftliche Arbeit an den Briefen sinnlos macht, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden. Die Abweichungen sind unterstrichen:
'Guter Jacob, ich fange hiermit an, Dir das Wichtigste von jeder Woche zu erzählen, und wenn es auch nicht wichtig ist, so willst Du es doch gerne lesen, hast Du gesagt. ' Von den ersten Tagen weiß ich Dir nichts zu sagen, als daß ich sehr traurig war, und noch jetzt bin ich wehmütig und möchte weinen, wenn ich daran denke, daß Du fort bist. Wie Du weggingst, da glaubte ich, es würde mein Herz zerreißen, ich konnte es nicht ausstehen, gewiß Du weißt nicht, wie lieb ich Dich habe. Wenn ich abends allein war, meinte ich, müßtest Du aus jeder Ecke hervorkommen.' (Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. Hrsg. v. Herman Grimm und Gustav Hinrichs. 2. Aufl. v. Wilhelm Schoof. Weimar, 1963, S. 17f.)
Die Briefe sind ein bewegendes Dokument von Humanität und Zeitgeschichte und sie veranschaulichen eine innige brüderliche, die auch kleine Mißverständnisse (vgl. S. 150ff.) nicht trüben können. Nur noch ein weiteres Beispiel von vielen: 'Liebster Jakob. Dein Brief hat mir große Freude gemacht, und deine Liebe darin, wie ich nicht sagen kann, und ich fühle wohl wie sie der einzige Grund meines Lebens ist und ich sie beständig in meinen Gedanken trage' (S. 111; 21.4.1809).
Erwartungen, Enttäuschungen, Gerüchte der Gelehrtenrepublik scheinen auf: 'Tiek hat ' was ich schon immer gehofft und erwartet ' die Niebelungen bearbeitet u. schon fertig' (S. 53; Jacob, 20.3.1805). Es stimmt nicht. Amüsiert lesen wir manches ungefilterte Urteil. Etwa jenes zu den Gemälden von Rubens im Palais Luxembourg: '[...] einige sind herrlich, besonders in der Komposizion, das Fleisch an den nakten Weibern ist abscheulich' (S. 55; Jacob, 2.4.1805). Kaum eine Bewertung fällt nur negativ aus '[Die Tante] hat sich einen Christuskopf in Öhl gekauft, der in ihrer Schlafkammer hängt, ein schlecht Bild, aber schön durch ihre fromme Gesinnung' (S. 103; Wilhelm, 1.4.1809). Nicht nur die Bilder, auch Kollegen werden scharfsichtig unter die Lupe genommen; Friedrich Heinrich von der Hagen zum Beispiel: '[...] fleißig, verständig im einzelnen scharfsinnig, hat er doch keine Ansicht von der Art mit welcher sich die Poesie geschichtlich äußert oder von ihrem Leben' (S. 187; Wilhelm, 13.11.1809). Oder der 'Turnvater' Jahn: 'Es ist ein verständiger Mann, der gut spricht nur stört mich etwas das anhaltende darin, denn er setzt auch in ein paar Stunden nicht ab' (S. 291; Wilhelm 8.3.1814).
Die große Politik schaut vielfach herein. Die Ära Napoleons: 'Um 10 Uhr fuhren wir ab nach Weimar, über das Schlachtfeld von Auerstädt um Mitternacht, wo mehr als 20.000 ruhen. Der Mond schien ganz hell auf die Gegend, und es machte einen ganz eigenen Eindruck. Der Postmeister in Auerstdt. hat mir mancherlei erzählt von der Schlacht' (S. 104; Wilhelm, 1.4.1809). Oder kritisch: 'Friedrich Schlegel, Collin, Hormayr, sind sämmtlich mit in den Krieg, um ihre Federn zu ziehen, wenn andere den Säbel' (S. 106; Wilhelm, 10.4.1809). Jacob nimmt am Feldzug nach  Frankreich 1814 mit der Südarmee im Gefolge des Fürsten Metternich teil: 'Gehaust wird von den Soldaten schlimm genug, in Nogent sollen 12 Bürgerinnen massacrirt worden seyn; in Bar s. Aube sah ich mit eigenen Augen, daß am hellen Tag ein Soldat einem armen Mann seine Pferde wegnahm unter lauten Klagen der Umstehenden' (S. 285; 8.2.1814). Das ungeschminkte Gesicht des Todes: 'Am schrecklichsten waren mir auf diesem Weg wieder mehrere unbegrabene Menschen, mitten auf der Chaussee, einer lag ganz nackend wie eine Mumie mit zurückausgestreckten Armen und Hunderte gehen vorüber und werfen keine Erde drauf. Reinlicher und treuer waren die alten, sonst grausameren Völker, wie sorgfältig werden im Homer nach der Schlacht die Todten verbrannt u. die Beine gesammelt um mit nach Haus gebracht zu werden' (S. 321; 19.4.1814). Das Wiener Kongreß-Treiben will Jacob gar nicht gefallen: 'vom Congreß ist nicht viel zu rühmen 1.) geschieht noch nichts 2.) was geschieht, heimlich, kleinlich, gewöhnlich und unlebendig, als wenn keine große Zeit nahvorherstünde' (S. 366; 8.10.1814). An späterer Stelle: 'Das Volk hat ein Recht, von solchen Anstalten ein ernstliches Resultat zu begehren und dieser Volksgeist darf durchaus nicht verletzt werden' (S. 395; 16.12.1814). Und gläubig-resignativ: 'Der Herr lenke die Rathgeber unserer Fürsten und bekehre die Schwachen; was vermag der einzelne zu thun?' (S. 294; 9.3. 1814).
Der junge Wilhelm lebt mit dem Tod vor Augen und schreibt einige erschütternde Blätter an seinen Bruder; z.B.: '[...] Ich weiß es schon lange, daß ich nicht kann geheilt werden; aber der liebe Gott ist gnädig und hälts verborgen, wann das Ende kommen wird und so hat er Angst und Furcht von mir genommen [...] Lieber Gott, nimm mich gnädig auf in deinen Himmel, betrachte nicht was ich gethan habe, sondern nur meinen Willen und mein Herz, du hast immer gesehen, das es voll Liebe gewesen ist [...]' (S. 787).
Jacob bekennt: ' Ich weiß nicht ich habe in manchen Dingen einen Leichtsinn der unrecht ist, den ich aber durchaus nicht besiegen kann, so könnte ich mich jetzt nicht mit Staats, Privatrecht p. abgeben, u. zu solchen Sachen muß mir das Waßer bis an den Hals gehen, ehe ich sie angreife' (S. 86; 12.7.1805). Er will kein Examen ablegen und er mag die zeitgenössische Geselligkeitskultur nicht: 'Und ist nicht das sonderbare Gesellschaftswesen etwas unnatürliches, um nicht zu sagen etwas modernes, denn vor ein Paar hundert Jahren war es sicher ganz anders u. man setzte sich nicht zu einander hin, um sich Zeit u. Lust zu nehmen, wie jetzo. Ich mag zu keinem andern gehen, als den ich lieb habe, u. der mich auch lieb hat [...] (S. 147; 19.7.1809). Sein Hessisch ist nicht zu leugnen: 'Ich gehe als noch in Wilds' (='ich besuche immer noch die Familie Wild', S. 122; 17.5.1809). Auch nicht die Liebe zu seinem Land: 'Ich fechte und rede für Heßen bei aller Gelegenheit, als für das beste Volk wenn ich nicht zu Haus bin [...] in der Ferne hat man sich viel reiner lieb' (S. 414; 27.1.1815).
Die zeitgenössischen literarischen und philologischen Bewegungen und Fehden werden genau beobachtet ' man steht auf der Seite der 'neuen Schule', der Romantik: 'Daß man die neue Schule mit aller Gewalt zu Grabe läuten will, rührt wohl größtentheils aus Parteierbitterung, Einfalt u. Nachbeterei her, einestheils leigt aber etwas darin was mir gefällt; es weht nämlich in der deutschen Literatur [...] wie mir deucht ein Geist von Republikanismus, der keine Schule oder Klique aufkommen lässt, u. gewiß ist dies der einzige Weg der zum Ziel führt [...] (S. 56; Jacob, 2.4.1805). Bücherkäufe, Begegnungen mit interessanten Persönlichkeiten ' bis hin zu Goethe in Weimar, Dezember 1809: '[...] wie wurde ich überrascht über die Hoheit Vollendung Einfachheit und Güte dieses Angesichts' (S. 198; Wilhelm, 13.12.1809). Reserviert fällt das Urteil über die Vulpius aus: 'seine Frau, die sehr gemein aussieht' (ebd.). Der Mittagstisch dauert von eins bis halb vier ' solch ausgiebiges Mahl kennt man bei den Grimms nicht.
1806 beginnt die ernsthafte Beschäftigung mit der 'altdeutschen' Dichtung Jacob kann damals noch 'Bearbeitung u. Erneuerung dieser Poesie' tolerieren, wie sie Arnim, Tieck, Brentano und andere unternehmen, um 'dieselbe wieder ganz ins Volk u. Leben zurück[zu]führen [...] jeder Studirende wird aber immer noch die älteren Recensionen vorziehen u. einen höheren Genuß haben, denn mit jeder neuen Recension wird am Ursprünglichen mehr oder weniger zerstört oder verdorben' (S. 98; 7.8.1807). In seinem späteren Briefwechsel mit Achim von Arnim wird er mit solchen Unternehmungen schärfer ins Gericht gehen. Das 'Ursprüngliche' will er auf keine Weise verfälscht sehen und deshalb verlangt er 'historisch genaue Untersuchung' (S. 123; 17.5.1809): 'So wenig sich fremde edele Thiere aus einem natürlichen Boden in einen andern verbreiten laßen, ohne zu leiden u. zu streben, so wenig kann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d.h. poetisch; allein historisch kann sie unberührt genossen werden und wer die unglückseligen Kangurohs kennen lernen will, der muß zu ihnen nach Australien reisen' (ebd.). Seine frühen philologisch-editorische Überlegungen hat die spätere Lachmann-Philologie zu nichte gemacht. Als Jacob in Wien die schöne Hohenemser Nibelungenlied-Handschrift C zu Gesicht bekommt, schreibt er: 'Es geht mir durch diesen Fund die Nothwendigkeit, drei bis vier Nibelungentexte [...] besonders und rein für sich abdrucken zu laßen, immer deutlicher vor. Das Zuschmelzen der Varianten ist unthunlich' (S. 390; 23.11.1814). Der letzte Satz ist der Germanistik bis heute ins Stammbuch zu schreiben!
Vor allem in den frühen Jahren geben die Briefe auch Einblicke die publizistische Arbeit der beiden Brüder. Steffens, so Wilhelm, meine wie sie, daß 'die Poesie, wie Mythologie zuletzt auf eine unmittelbare göttliche Offenbarung zurückgeführt werden könne und aus dieser ausgegangen' sei (S. 106; 14.4.1809). Wilhelm läßt sich nicht blenden von einem, der die Dinge nicht auf den Punkt zu bringen weiß: '[Steffens] wird niemals ganz durchdringen, zuweilen musicirt er mit den Worten' (S. 126; 25.5.1809). Ärger über ein vorschnelles Urteil: '[...] steht nun der Eingang zur Niebelungenrecension, ich wünsche manches daraus weg, vor allem das Urtheil über Parcival u. Tristan. Wir hatten beide vorher wohl zu flüchtig gelesen' (S. 109; Jacob 15.4.1809).
Nach Jacobs Kongreß-Reise und Wilhelms Heirat mit Dorothea Wild (1825) nimmt das Familiäre, in den Göttinger Jahren die Universitätspolitik einen breiteren Raum ein. Wir schauen auf ein sorgenvolles, bescheidenes, von Geldnot und vielfachen Krankheiten geprägtes ' auf ein wohl nicht untypisches bürgerliches Leben im 19. Jahrhundert. Es ist ein auf weite Strecken wirklich aufregender Briefwechsel. Man muß ihn einfach lesen!