'Gedächtnis' (individuelles wie kollektives) und 'Erinnerung' zählen seit geraumer Zeit zu Kulturthemen ersten Ranges, die nicht bloß im Feuilleton Konjunktur haben, sondern die auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. Dementsprechend unüberschaubar ist inzwischen die interdisziplinäre Gedächtnisforschung. Allein schon deshalb erfüllt dieses Lexikon nicht nur ein absolutes Desiderat, sondern es ist auch ' das darf man getrost vorwegnehmen ' eine bemerkenswerte Pionierleistung. Die etwa 400 Stichworteinträge, die (fast) alle sehr fundiert, informativ und obendrein gut geschrieben sind, umfassen eine Vielzahl von zentralen Ansätzen und Grundbegriffen der Gedächtnisforschung, die aus sechs übergeordneten Disziplinen ' Kulturwissenschaften, Medienwissenschaften, Neurobiologie, Pädagogik, Philosophie und Psychologie ' stammen.
Obgleich die vielfach ausgezeichneten Beiträge im Rahmen einer Besprechung nicht im einzelnen gewürdigt werden können, was viele sicherlich verdient hätten, seien zumindest die wichtigsten der mannigfaltigen Vorzüge dieses Lexikons hervorgehoben. In dem vorangestellten Einleitungsbeitrag 'Zur Einführung ' anstelle der Stichworte 'Gedächtnis' und 'Erinnerung'' werden die dem anspruchsvollen lexikographischen Unternehmen zugrundeliegenden Grundgedanken und die innovative Konzeption prägnant erläutert. Zu Recht betonen die Herausgeber, daß das Gedächtnis 'als ein diskursives Konstrukt zu begreifen' (S. 13) sei und daß für eine adäquate Darstellung eines so komplexen interdisziplinären Feldes wie der Gedächtnisforschung, 'innerhalb dessen die jeweils fachspezifischen Erklärungsansätze immer nur Teilaspekte des Phänomens erläutern' (S. 6), eine Präsentationsform nötig sei, die es erlaubt, 'die Diversität der wissenschaftlichen Ansätze zu wahren' (S. 14). Wer das Medium des Buchs für überholt hält, wird durch dieses interdisziplinäre Lexikon insofern eines Besseren belehrt, als es sich bei einem interdisziplinären Thema wie dem der Gedächtnisforschung aufgrund von 'zwei Strukturelementen der lexikographischen Wissenspräsentation: der alphabetischen Gliederung und dem Querverweis' (ebd.) als geradezu ideale Präsentationsform erweist und in Form des 'manuellen Hypertextes' (S. 16) wie ein Phönix aus der Asche emporsteigt.
Doch noch in einer weiteren Hinsicht setzt dieses anspruchsvolle lexikographische Unternehmen, das seinen hohen Ansprüchen im übrigen vollauf gerecht wird, ganz neue Maßstäbe: Es ist nicht nur ein vorzügliches Nachschlagewerk, obgleich es auch das in hohem Maße ist, sondern es 'ist vielmehr in seiner Gesamtheit als Diskussionsbeitrag innerhalb der ' interdisziplinären ' Gedächtnisforschung zu verorten' (S. 17). Daß nicht alle Artikel den neuesten Erkenntnissen und Methoden der Begriffsgeschichte und Begriffsbildung Rechnung tragen, schmälert den Nutzen dieses Lexikons ebensowenig wie die Tatsache, daß sich über die (im übrigen sehr gute) Auswahl der Lemmata ' insbesondere im Bereich der Artikel, die Theoretikern und Autoren (warum etwa fehlen 'die Assmanns', die freilich mit einigen ausgezeichneten Artikeln als Beiträger beteiligt sind?) gewidmet sind, ' trefflich streiten ließe. Trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruchs ist dieses Lexikon im übrigen sehr benutzerfreundlich, zumal es durch eine gut ausgewählte und bemerkenswert aktuelle Auswahlbibliographie, ein Stichwortverzeichnis, ein Autorenverzeichnis und ein nützliches Personenregister, das nochmals einen anderen 'Einstieg' in diesen manuellen Hypertext ermöglicht, abgerundet wird.
Dieses Lexikon wird nicht nur einen nachhaltigen Beitrag zur besseren Orientierung in einem schwer überschaubaren Begriffsfeld und komplexen interdisziplinären Forschungszusammenhängen leisten, sondern es ist auch zu hoffen, daß es 'schule- und modellbildend' wirken und einen möglichst nachhaltigen Einfluß auf die Forschung entwickeln möge. In jedem Fall darf man den Herausgebern, den Beiträgern und dem Verlag gratulieren zu diesem in jeder Hinsicht vorzüglich gelungenen Lexikon, das eine veritable herausgeberische Glanztat ist und eine große Lücke auf dem Buchmarkt schließt. Es eignet sich nicht bloß als eminent nützliches Nachschlagewerk und als Fundgrube, sondern es liefert der Forschung auch viele neue Impulse. Obendrein lädt dieser glänzend edierte Band aufgrund des wohldurchdachten Systems der Querverweise förmlich ein zum Schmökern ' und zwar zum Schmökern auf höchstem Niveau.
Fazit: Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß dieses Lexikon, das nicht nur auf dem deutschen Buchmarkt derzeit konkurrenzlos ist, selbst in einer so kurzlebigen Zeit wie unserer auf Jahre hinaus ein unentbehrliches Standardwerk sein und bleiben wird. Dem Verlag möchte man den Mut wünschen, in der renommierten 'Rowohlts Enzyklopädie' ähnliche Bände zu weiteren kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern zu veröffentlichen. Kurzum: Ein äußerst empfehlenswertes Lexikon, das nicht nur very good value for very little money bietet, sondern auch in die Bücherregale, auf die Schreibtische und in die Hände möglichst vieler Lehrender und vor allem auch Studierender gehört!