Kulturwissenschaft
Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis

An Versuchen, die Geisteswissenschaften (insbesondere 'die' Literaturwissenschaft) kulturwissenschaftlich zu reformieren, zu modifizieren oder zu perspektivieren, herrscht wahrlich kein Mangel. Überblickt man die Vielzahl der Neuerscheinungen zum Thema 'Kulturwissenschaft', so wird deutlich, daß es sich um ein besonders kontroverses Thema handelt, das die Gemüter seit Jahren erhitzt und über das sich offenbar trefflich streiten läßt. Allerdings wird der inflationär gebrauchte Begriff 'Kulturwissenschaft' in so vielen unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, daß die Debatten nicht selten an den Turmbau zu Babel erinnern.
Der anzuzeigende Band hebt sich gleich aus mehreren Gründen wohltuend ab von vielen anderen Publikationen zu diesem Thema. Im Gegensatz zu vielen anderen Sammelbänden ist es in diesem Falle erstens nicht allein die Kunst des Buchbinders, die die prägnante Einleitung und die acht nachfolgenden Originalbeiträge aus ebenso vielen Disziplinen verbindet, sondern auch und vor allem ein ebenso aktuelles wie relevantes Thema: Die im Titel der Einleitung implizierte Frage, wie 'Kulturwissenschaftliche Analysen als prozeßorientierte wissenschaftliche Praxis' theoretisch konzeptualisiert und praktisch betrieben werden können. Nicht minder überzeugend ist zweitens die interdisziplinäre Anlage dieses Bandes, der (sehr namhafte und ausgewiesene) Vertreter verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu Wort kommen läßt. Drittens verdankt dieser Sammelband seine Qualität der Fähigkeit (und Disziplin) der Beiträgerinnen und Beiträger, trotz der Unterschiede zwischen den verschiedenen Fächern einen guten Überblick über die jeweiligen Anliegen, Grundlagen, Traditionslinien und Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung in den einzelnen Disziplinen zu geben. Zu den kohärenzstiftenden Leitmotiven zählt die (inzwischen natürlich nicht mehr neue) 'Einsicht in den Konstruktcharakter' (S. 24) bzw. 'konstruktivistischen Charakter' (S. 25) wissenschaftlichen Schreibens, demzufolge es sich bei kollektiven Bedeutungssystemen ' mithin bei 'Kulturen' sowie bei allen Definitionen dieses schillernden Begriffs ' ebenfalls um Konstrukte handelt.
Will man von den vorzüglichen Beiträgen, die durch die Bank von hoher Qualität sind, einige herausgreifen, die besonders informativ und gelungen sind, so steht man vor der Qual der Wahl, bei der letztlich die eigenen (disziplinär bedingten) Interessen den Ausschlag geben. Zu den besonders aufschlußreichen Beiträgen zählen der breit angelegte Überblick von Jürgen Straub über 'Psychologie und Kultur, Psychologie als Kulturwissenschaft', Ute Daniels glänzend geschriebener und pointierter Aufsatz 'Geschichte als historische Kulturwissenschaft. Konturen eines Widergängers' und Doris Bachmann-Medicks ebenso ausgewogener wie anregender Artikel 'Literatur ' ein Vernetzungswerk. Kulturwissenschaftliche Analysen in den Literaturwissenschaften'. Aber auch die nicht genannten Beiträge, die Kultur und Kulturwissenschaften u.a. aus anthropologischer (Martin Fuchs), soziologischer (Gabriele Cappai) und religionswissenschaftlicher (Hans G. Kippenberg) Perspektive beleuchten bzw. die einen Überblick geben über 'Das Kulturverständnis in der neueren Erziehungswissenschaft' (Walter Herzog) und 'Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung' (Hans-Dieter König), sind so informativ und gehaltvoll, daß man sich ihre Lektüre nicht entgehen lassen sollte.
Fazit: ein facettenreicher, anregender, gelungener und sorgfältig edierter interdisziplinärer Band, der eine notgedrungen selektive, aber gute Bestandsaufnahme zu einem Thema ersten Ranges bietet. Daß die Beiträge aus den verschiedenen Disziplinen trotz der guten kohärenzstiftenden Einleitung letztlich doch relativ unverbunden nebeneinander stehen, ist nicht den Herausgeberinnen, sondern dem 'real existierenden' 'state of the art' anzulasten. Wer einen eher monographisch-zusammenhängenden Überblick über das weite Feld der Kulturtheorien sucht, wird zwar eher zu anderen Publikationen greifen (z.B. zu dem im gleichen Verlag ein Jahr zuvor erschienen Band Die Transformation der Kulturtheorien von Andreas Reckwitz), aber das schmälert den Nutzen dieses perspektivenreichen und lesenswerten Sammelbandes in keiner Weise.