Der deutsche Pop-Roman

'Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft' (S. 9), bemerkt der Verfasser im ersten Satz eines Buches, das (nicht nur) für Germanisten zur Pflichtlektüre werden sollte. Es handelt sich schon deshalb um eine bemerkenswerte Pionierleistung, als es nichts Geringeres unternimmt als 'die Bestimmung einer neuen deutschen Literatur der 90er Jahre' (S. 12). Mehr noch: Ausgehend von der richtigen Einsicht, daß man die spezifischen Qualitäten der neuen 'Pop-Romane' nicht in den Blick bekommt, wenn man sie über den normativen Leisten eines traditionellen elitären Literaturbegriffs schlägt, unternimmt Baßler den (überfälligen) Versuch, die allzu oft und rasch 'abgeurteilte 'Oberflächlichkeit' der neuen Literatur nicht als defizitäre Abweichung, sondern als Phänomen eigenen Rechts zu verstehen und ihre je individuellen Ausprägungen und Funktionen in konkreten Textanalysen zu beschreiben' (S. 15). Das klingt übrigens viel gestelzter (und germanistischer) als es ist, denn was man von der ersten bis zur letzten Seite vor allem spürt, ist die große und von Anfang an ansteckende Lektürelust des Verfassers an den (meisten der) scharfsinnig analysierten und kommentierten Romanen. Die stilistische Brillanz und argumentative Verve dürfen im übrigen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich Baßler keineswegs (zu) einfach macht, scheut er sich doch nicht einmal, so denkbar grundsätzliche Fragen aufzuwerfen wie jene, die in jedem Grundkurs aufs Tapet kommt und die von deutschen Pop-Romanen geradezu provoziert wird: 'Was unterscheidet einen literarischen Text von einem vollgeschwallten Stück Papier?' (S. 115) ' Vorsicht, 'Fettnäpfchen allenthalben' (S. 135), ist man da geneigt zu bemerken, aber wenn die literarische Kuh schon auf dem dünnen feuilletonistischen Eis ist, muss sie halt irgendwer runterholen, und genau da kommt Moritz Baßler (nicht zu verwechseln mit Mario Basler) rein.
Die Antwort(en) auf derartige Schlüsselfragen der Literaturwissenschaft bleibt der Autor nämlich nicht schuldig, aber wer bei derlei Fragen einen teutonischen Theoriestreifzug durch die Literarizitätsdebatten des 20. Jahrhunderts wittert, hegt grundlose Befürchtungen, denn Baßler bleibt (fast) immer sonnenklar und konkret. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn seine zentrale These ist alles andere als trivial, sondern durchaus ehrgeizig konturiert: Sie besagt, daß die so genannten 'Pop-Literaten' (wie Christian Kracht, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Benjamin von Stuckrad-Barre und andere) sich nicht an den klassischen Erzählmustern orientieren, sondern sich als Repräsentanten eines neuen Archivismus bzw. als  'die neuen Archivisten' des Untertitels erweisen: 'Wenn das Neue, mit Boris Groys, als Ergebnis einer Tauschhandlung zwischen anerkannter Kultur und der Welt des Profanen  zustande kommt, dann ist Pop, als Medium des Neuen, zuallererst eine Archivierungs- und Re-Kanonisierungsmaschine' (S. 46). Paradigmen der zeitgenössischen (Populär-)Kultur, so Baßlers These, 'sind das Herzstück aller popliterarischen Verfahren zwischen Sammeln und Generieren' (S. 102). Sie schlagen sich u.a. in den für viele Pop-Romane so charakteristischen enzyklopädischen Verfahren nieder, für die die von Nick Hornbys Erzählern so geliebten 'Hit-Listen' und die verbreitete Vorliebe für Markennamen besonders prägnante Beispiele sind. Anstatt tiefgründige Probleme 'auf den Begriff' zu bringen, bringen Pop-Literaten lieber die Abgründe der Gegenwartskultur 'auf den Katalog' (S. 106) und speichern auf diese Weise 'enzyklopädische Zusammenhänge und damit Kultur' (S. 167, vgl. S. 184ff.). Sie schwingen sich dabei nicht bloß 'gelegentlich zu echten Highlights höheren Blödsinns auf', sondern 'archivieren unterwegs an Gegenwartskultur, was das Zeug hält' (S. 125), bemerkt der Autor treffend, der (wie viele seiner Pop-Literaten auch) neben dem akademischen Diskurs auch noch etliche andere Stilebenen 'drauf hat'. Bei den heftigen Kontroversen, die von den Pop-Literaten, ihren Werken und ihren Selbstinszenierungen ausgelöst wurden und werden, geht es letztlich um 'den Konsens darüber, was Literatur sein kann und will' (S. 184). Baßler bezieht in dieser Frage denkbar klar Stellung und bricht erfolgreich etliche Lanzen für die 'Pop-Literatur' bzw. die 'neuen Archivisten, wobei er keinen Hehl daraus macht, daß 'selbstquälerische Reflexionsprosa' (S. 178, 181) seine Sache nun mal nicht ist und daß ihm der 'Abschied von der avantgardistischen Bedeutungsgravität' (S. 16) keine Träne entlockt. Mit seinen scharfsinnigen, subtilen und immer erhellenden Interpretationen erbringt Baßler auch überzeugend den Nachweis für seine These, daß 'eine akribische Lektüre' (S. 186, 190) von den meisten Pop-Romanen nicht enttäuscht, sondern aufgrund derer verdichteter Textur belohnt werden. Er scheut sich auch nicht, die nicht selten moralinsauren Deutungen und negativen Wertungen der 'institutionellen Hüter' (S. 184) der 'ernsthaften Literatur' (bzw. der 'Literatur-Literatur', von der in diesem Buch wiederholt die Rede ist), von denen manch einer auch in diesem Fall den ''Amoklauf eines Geschmacksterroristen'' (S. 107) wittern dürfte, als das zu bezeichnen, was sie bisweilen leider sind, reichlich 'unterkomplexe' oder 'selektive Lektüren' (vgl. S. 115) bzw. 'Fehllektüren' (S. 118). Daß der Verfasser im Eifer des argumentativen Gefechts und vor allem bei seiner unverhüllten Begeisterung für die neuen Archivisten insofern hier und da selbst ein bisschen über das Ziel hinaus zu schießen droht, als auch seine Lektüren punktuell ein wenig normativ geraten (vgl. z.B. S. 93, 195), schmälert ebenso wenig den Nutzen und Erkenntniswert dieses eminent lesenswerten Buches wie der Umstand, daß der ansonsten äußerst beschlagene Autor narratologisch an einigen Stellen ' insbesondere beim Rekurs auf das Phantom des 'impliziten Autors' (z.B. S. 25, 198) und dem terminologischen Missgriff bei der Einwechselung des 'personalen Erzählers' (S. 190) ' nicht immer ganz auf Ballhöhe ist. Alles in allem ist diese keinesfalls 'restlos unheikle Übung' (S. 119) aber vortrefflich gelungen, bietet sie doch jede Menge tief schürfende Einblicke in neue Formen des literarischen Umgangs mit dem 'Thesaurus der medialen Gegenwart' (S. 97).
Fazit: Im Gegensatz zu avantgardistischen Künstlern und dünkelhaften Kritikern, die 'einen dringenden Genieverdacht gegen sich selbst hegen' (S. 184), werden Leser, bei denen das nicht der Fall ist, ihre helle Freude haben an einem Buch, das ihnen nicht zuletzt auch erklärt, warum sie sich in Zukunft nicht einmal zu schämen brauchen, wenn sie Pop-Romane gerne lesen, denn diese archivieren 'in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur' (S. 184). Solange keine Luststeuer auf derlei Vergnügungen erhoben wird, traut man sich gerade noch, am Schluss Folgendes einzugestehen: Die Lektüre dieses ebenso erhellenden wie vergnüglichen Bändchens, das nicht bloß argumentativen und akademischen Tiefgang hat, sondern obendrein auch noch mächtig flott, überaus anschaulich und exzellent geschrieben ist, macht (großen) Spaß! Nach dem lustvollen und anregenden Lektüreerlebnis fühlt man sich geradezu an einen Satz im autobiographisch gefärbten ersten Kapitel erinnert, in dem der Autor davon berichtet, 'Wie alles anfing' (S. 9): 'gekauft, gelesen, und die Literatur der 90er Jahre hatte mich' (S. 12) ' genau so isses auch hier! Oder um es noch einmal mit dem pointensicheren Stilisten Baßler zu sagen: 'Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literaturwissenschaft besser als die deutsche Literatur ' und besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft sowieso'.