Weltbewußtsein
Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne

'Kaum ein anderer Wissenschaftler, Schriftsteller und Gelehrter des ausgehenden 18. Jahrhunderts und des 19. Jahrhunderts stellt für Denken und Handeln zu Beginn des dritten Jahrtausends eine so faszinierende Herausforderung dar wie der jüngere der beiden Humboldt-Brüder' (S. 9), bemerkt Ottmar Ette in seinem Vorwort dieses Bandes, dessen Lektüre einer veritablen Entdeckungsreise gleichkommt. Nach der Lektüre seines ebenso aufschlußreichen wie anregenden Buches wird man selbst als 'Anhänger' Wilhelm von Humboldts kaum umhin können, dem Autor zuzustimmen, gelingt es ihm doch vorzüglich, ein neues Bild Alexander von Humboldts zu entwerfen und den Nachweis für seine Thesen zu erbringen, daß dieser 'wissenschaftliche Kosmopolit' (S. 76) 'Visionen' (S. 19) für 'das unvollendete Projekt einer anderen Moderne' (zugleich Untertitel und eines der zentralen Leitmotive, vgl. z.B. S. 19ff., 103f., 183) und eine Vielzahl von anregenden und auch heute noch bemerkenswerten Antworten für aktuelle Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft bereithält.
Treffend charakterisiert der Autor zu Anfang des ersten Teils sein Projekt, wenn er schreibt, der Band versuche, 'Humboldts Wege nachz uzeichnen, ohne eine Biographie im traditionellen Sinne zu bieten und ohne sich in einer Abfolge von Einzelanalysen zu verlieren' (S. 11). Vielmehr steht das Bemühen im Vordergrund, die Besonderheiten von Humboldts Denken (inklusive seiner vom Verfasser immer wieder offen eingestandenen Widersprüche und zeitbedingten Grenzen), seinen Vorstellungen von transdisziplinärer Wissenschaft und seines Schreiben herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt der beiden als 'Ideenkreise' bezeichneten Hauptteile stehen folgerichtig die Humboldtsche Wissenschaft ('Wandernde Netze, Wissenschaftsverständnis und Weltbewußtsein'), die in der Überschrift von Kapitel 2 metaphorisch-treffend charakterisiert wird ('Eine Wissenschaft als netzartig verschlungenes Gewebe', S. 34, vgl. S. 79ff.), und das Humboldtsche Schreiben ('Vernetzte Wanderungen. Alexander von Humboldts Reisewerk'). Da sich die Vielzahl der erhellenden Beobachtungen jedem Versuch, sie in einer kurzen Besprechung wiederzugeben, entzieht, seien die mit aussagekräftigen Kapitelüberschriften und 17 Illustrationen versehenen Kapitel allen Interessierten wärmstens zur Lektüre empfohlen. Am Ende plädiert Ette nochmals überzeugend dafür, daß 'wir Alexander von Humboldts unvollendeten Entwurf einer anderen Moderne, die auf einem ethisch fundierten Weltbewußtsein aufruht und andere Logiken (als Logiken des Anderen) in ihre Weltanschauung miteinbezieht, für ein neues Verständnis unserer eigenen Vergangenheit und eine neue, transdisziplinäre Konzeption künftiger Wissenschaft nutzen' (S. 231) sollten.
Fazit: Ein scharfsinniges, kenntnisreiches und eminent aktuelles Buch, das nicht nur ein neues Bild Alexander von Humboldts entwirft, sondern dem es auch gelingt, dessen Denken 'für eine erweiterte Diskussion nicht der Moderne, sondern unterschiedlicher, divergierender peripherer Moderne-Projekte fruchtbar zu machen' (S. 10). Ohne je Gefahr zu laufen, Humboldt vor einen anachronistischen oder populärwissenschaftlichen Karren zu spannen (es ist bezeichnend, daß sich der Autor von dem anläßlich einer Posteraustellung an ihn herangetragenen Ansinnen, Humboldt vor allem als Vertreter der Menschenrechte, der Ökologie und des interkulturellen Dialogs zu präsentieren, distanziert; vgl. S. 78, Anm. 123), versteht es Ette glänzend, 'die Vorschläge und Erfahrungen, die Theorie und Praxis der Humboldtschen Wissenschaft in die gegenwärtigen Diskussionen um Globalisierung und Weltethos, um Kosmopolitismus und global citizenship, auch um eine transdisziplinäre Neuorientierung der Wissenschaften einzubringen' (S. 10). Das vielfältige Schaffen Alexander von Humboldts, der in der Tat 'das Zeug dazu hat, zu einem Meisterdenker für das 21. Jahrhundert zu werden' (S. 230), zeigt Ette zufolge 'exemplarisch die Fallen und Risiken, weit mehr aber die Chancen und Perspektiven eines vernetzten Denkens auf, das unterschiedliche Bereiche des Wissens mehrdimensional verknüpft' (S. 233). Allen, die sich dafür und für die Möglichkeiten eines 'neuen, über Humboldt hinausgehenden transkulturellen Weltbewußtseins' (S. 10) interessieren, kann man dieses geradezu spannend zu lesende Buch mit Nachdruck zur Lektüre ans Herz legen.