Vom Inselreich zur Weltmacht
Die Entwicklung des englischen Weltreichs

Diese ebenso gute wie innovative Geschichte des englischen Weltreichs vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert unterscheidet sich gleich in mehrfacher Hinsicht von anderen deutschen Überblicksdarstellungen zur englischen Geschichte (z.B. den Standardwerken von Kurt Kluxen, Gottfried Niedhart oder Peter Wende), denen sie im Hinblick auf Qualität im übrigen in nichts nachsteht. Erstens erteilt die Verfasserin, die an der Universität Göttingen deutsche, westeuropäische und amerikanische Geschichte lehrt, dem Begriff ‚Überblick‘ gleich zu Beginn eine deutliche Absage und umreißt im Gegensatz dazu ihre eigene Zielsetzung: 'Es geht hier nicht um die Präsentation einer vollständigen Ereignisgeschichte und chronologisches Abhaken von Monarchen, Kriegen und Fakten. Vielmehr soll eine Vorstellung davon vermittelt werden, wie ein kleines Land solch eine weltweite Bedeutung gewinnen, lange bewahren und in wenigen Dekaden verlieren konnte.' (S. 7)
Anstatt der Chimäre der Vollständigkeit nachzujagen, nimmt sich Claudia Schnurmann zweitens begrüßenswerterweise die Freiheit, thematische Schwerpunkte zu setzen. Im Gegensatz zu der sonst oft vorherrschenden isolationistischen bzw. insularen Betrachtungsweise schildert sie Englands Aufstieg zur Weltmacht von einer transnationalen Perspektive und rückt Englands Außenkontakte und Außenwirkungen in den Mittelpunkt. Obgleich auch die interne Entwicklung Englands in den Bereichen Politik, Verfassung, Gesellschaft, Kultur, Religion und Wirtschaft berücksichtigt wird, dienen ihr dabei v.a. drei Aspekte als Leitfragen: 'Auf welche Weise entstand das englische Weltreich? Welche internen und externen Konstellationen, Personen und Faktoren spielten dabei eine Rolle? Wie gestalteten sich die Beziehungen zwischen England und Europa?' (S. 9) Drittens scheut sich die Verfasserin nicht, ein 'ausgesprochen heiße[s] Eisen der Geschichtsforschung anzupacken' (S. 8), denn sie rückt auch den besonders schwer faßbaren, gleichwohl aber zentralen Bereich der Mentalitätsgeschichte in das Blickfeld: Daß nationale Selbst- und Fremdwahrnehmung, kollektive Identitäten, Vorurteile und Stereotypen, Nationalismus und Xenophobie (vgl. z.B. S. 86f., 99, 110ff., 142, 146, 198f.), kulturelle Erinnerung, tiefsitzende kollektive Ängste wie 'die traditionelle Invasionsfurcht der Briten' (S. 180, vgl. auch S. 182, 217, 222) und die ‚Erfindung‘ nationaler Interessen leitmotivisch wiederkehren, zählt zu den zahlreichen Vorzügen dieser gehaltvollen Darstellung. Vorbehaltlos zu begrüßen ist auch die interdisziplinäre Ausrichtung dieser Geschichte Englands, die immer wieder mit Gewinn die Erkenntnisse der Literaturwissenschaft und Alltagskultur einbezieht.
Der Leser wird durch die unkonventionelle Konzeption des Bandes mit einer originellen, anregenden und bündigen Darstellung der englischen Geschichte belohnt, einer Studie, die 'ein sehr persönliches Porträt der kapriziösen Dame Britannia' (S. 11) zeichnet und sich sinnvollerweise auf diejenigen Bereiche, Entwicklungen und Strukturen konzentriert, die im kollektiven Gedächtnis besonders tiefe Spuren hinterlassen haben. Nicht unerwähnt bleiben darf der gut lesbare, erfrischend flotte Stil, der mit seiner Mischung aus prägnanter Informationsvermittlung, subtiler Ironie und trockenem Humor das verbreitete Vorurteil widerlegt, die Früchte deutscher Wissenschaftlichkeit könne man nur dann genießen, wenn man den Preis der Schwerverständlichkeit in Kauf nimmt. Kostprobe gefällig? 'Schon damals glaubte man fälschlicherweise, Ideen durch die Tötung ihrer Verfechter aus der Welt schaffen zu können [...].' (S. 35) oder: 'Richard II. muß ein schwieriger Mensch gewesen sein ' weniger euphemistisch könnte man ihn als ein rechtes Rabenaas bezeichnen [...]' (S. 44; vgl. z.B. auch S. 61f., 77, 141). Einige Druck- und Zeichensetzungsfehler (z.B. S. 13, 35, 42, 47, 49, 53ff., 64f., 68, 93, 116f., 140, 146, 149, 170, 196, 207, 215, 227f.) sollten in der hoffentlich bald fälligen 2. Ausgabe korrigiert werden, trüben aber in keiner Weise den ausgezeichneten Gesamteindruck. Ein zusätzlicher Druckbogen würde der 2. Auflage allerdings gut zu Gesicht stehen, damit die bislang arg gedrängt abgehandelten Phasen der Dekolonialisierung und der 1980er und 1990er Jahre in der gleichen Ausführlichkeit dargestellt werden können wie die Höhenflüge des ersten und zweiten Britischen Empires.
Fazit: Autorin und Verlag verdienen ein Kompliment für diese vorbehaltlos lesens- und empfehlenswerte Studie, die mit englischem Understatement eine eigenständige und klar konturierte, zuverlässige und profunde Geschichte erzählt und der viele LeserInnen zu wünschen sind.