Fabrikmahlzeit
Ernährungswirtschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950

Diese überarbeitete Zürcher Habilitationsschrift von 1995 zielt auf den ersten Blick scheinbar nur auf ein Randthema, das von den Historikern wegen der dürftigen Quellenüberlieferung fast ganz unerforscht geblieben ist. Der Autor hat die 'Menagen', 'Kosthäuser' und 'Betriebskantinen' vor allem dazu benutzt, um den schon länger erkannten revolutionären Umbruch der Volksernährung beim Übergang in die industrielle Gesellschaft unter Benutzung neuer Fragestellungen der interdisziplinären Nahrungsverhaltensforschung weiter zu durchleuchten. Die Kapitel schildern keine zusammenhängende chronologische Geschichte, sondern bilden eine Auswahl weniger Problemfelder und orientieren sich nur an Schweizer Beispielen, liefern aber dennoch oft allgemeingültige und gedanklich inspirierende Aussagen. Mit Hilfe der Fabrikmahlzeit soll exemplarisch gezeigt werden, daß die Vernunft, in der der Fortschrittsglaube der modernen Industriegesellschaft wurzelt, auch durch den Magen ging (vgl. S. 455).
So wird vorgeführt, wie die aufkommende moderne Ernährungswissenschaft erstmals den Körper rein biochemisch als eine Wärme-Kraft-Maschine oder 'menschlichen Motor' betrachtete, den man der neuen industriellen Arbeitsleistung durch optimale Kraftentfaltung anzupassen versuchte. So rückte die Berechnung des Energiewertes der Nahrung in den Mittelpunkt. Eine 'rationelle Volksernährung' sollte nicht nur die individuelle, sondern auch die volkswirtschaftliche Produktivität sowie ferner internationale Wettbewerbsfähigkeit, schließlich die Militärkraft und den nationalen Zusammenhalt stärken. Diese Verwissenschaftlichung der täglichen Ernährung hatte die größten Folgen und ließ vor allem die häusliche Mahlzeit als traditionellen Ort sozialer Kommunikation und kultureller Sinngebung in den Hintergrund treten. Die Opposition gegen die ungeliebte Kantinenkost kam daher stets aus dieser Richtung. Die Trennung zwischen Haus und Beruf konnte lange psychisch nicht überwunden werden. Ebenso interessant ist daher Tanners Darstellung, in welcher Weise die sich auftuende Kluft zwischen Fabrikordnung und Haushaltsführung durch Formen der 'organisierten Mütterlichkeit' bürgerlicher Wohlfahrtsorganisationen zu überbrücken versucht wurde. Haushaltsschulen und Kochkurse wurden als Mittel angesehen, zum sozialen Harmonieausgleich zwischen Unternehmern und proletarischer Arbeiterbewegung beizutragen und die fakultative Sozialpolitik auf neutraler Basis zu stärken.
Die umfangreiche Studie, welche wegen der schlechten Quellenlage weniger die Kantinenkost selbst als ihre politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen analysiert, bedarf noch vieler Ergänzungen aus deutscher Sicht. So beginnt der Einfluß der Ernährungsphysiologie auf die Anstaltskost wesentlich früher, nämlich in den 1860er Jahren. Die Rolle der betrieblichen Arbeiterausschüsse, denen die Verwaltung der betrieblichen Verpflegung frühzeitig zugewiesen wurde, und die Entwicklung des Kochunterrichts im Rahmen von Fortbildungs- und dann Berufsschulen, wäre noch quellenorientiert zu klären. Der größte Teil der erwerbstätigen Bevölkerung, der außerhalb der Fabriken sein Brot verdiente und noch vor allem auf dem Lande sowie im Kleingewerbe in den alten Kost- und Logisverhältnissen lebte, ist erst mit großer zeitlicher Verzögerung von den geschilderten Rationalisierungswandel erfaßt worden. Diese Hinweise sollen keinesfalls den Wert dieser höchst verdienstvollen Untersuchung mindern, sondern nur zeigen, welche großen Forschungslücken hier künftig noch zu füllen sind.