Seit dem 7. Oktober 2023, der Terror-Attacke der Hamas auf Israel, ist vieles anders, in Israel, aber auch hier. Jüdinnen und Juden leben in noch sehr viel größerer Unsicherheit, antisemitische Gewalt, ob verbal oder handgreiflich, erreicht neue Dimensionen, quantitativ wie qualitativ. Allen Sonntagsreden zum Trotz wird jeden Tag aufs Neue deutlich: Antisemitismus hat in dieser Gesellschaft einen festen Platz. Das zeigt sich nicht erst seit dem 7. Oktober nicht zuletzt auch an zahlreichen Neuerscheinungen zum Thema. Um eine der wichtigeren darunter geht es an dieser Stelle – um eine schmale Sammlung von Beiträgen des Intellektuellen Jean Améry, die er in den Jahren von 1969 bis 1978 publiziert hat.
Améry, der 1912 als Hans Mayer geboren wurde und seit den 1950er den Namen Jean Améry führte, war katholisch sozialisiert. Erst durch die Nürnberger Gesetze 1935, so Améry, sei ihm sein „Judesein“ klargeworden. Der Antifaschist wollte Gegner der Nazis sein, nicht weil diese ihn dazu machten, sondern aus eigenem Entschluss. So hat er bereits bevor er das „Judesein“ für sich annahm, gegen die Nationalsozialisten und Klerikalfaschisten in Österreich eingesetzt. Hierüber gibt er in dem kurz vor seinem Tod verfassten Beitrag „Mein Judentum“ eindrücklich Auskunft. Später floh er, wurde jedoch vom kriegerisch expandierenden NS-Deutschland wieder eingeholt und 1943 schließlich nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg lebte er in Brüssel und wurde ein führender Intellektueller im deutschsprachigen Diskurs.
Die unter dem Titel „Der neue Antisemitismus“ veröffentlichten Interventionen Amérys, die ihm erheblich Ansehen kosteten, können trotz ihres Alters auch heute als Beiträge zur aktuellen Lage gelesen werden. Einzig neu ist diese Variante des Antisemitismus, von der Améry schreibt, heute nicht mehr, sie ist vielmehr seit 1967 in der Welt. 1976 fragte Améry sich im titelgebenden Essay noch „Wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig?“ (S. 73) Nicht erst heute ist die Antwort eindeutig, bereits Améry selbst hatte keinen Zweifel mehr daran. Was aber war neu und schreckte Améry auf? Mit dem sogenannten 6-Tage-Krieg und der Besetzung des Westjordanlands 1967 kam eine neue Spielart von Antisemitismus in die Welt. Dieser „neue Antisemitismus“ nenne, so Améry, seinen Namen nicht, er leugne, überhaupt etwas mit Judenhass zu tun haben und sei getarnt als Anti-Zionismus. Dieser sei „nichts anderes als die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je“ (S. 77) und habe „seine zügellosesten Vertreter“ (S. 78) im linken Lager. Das ist der Kern dessen, was Améry seit Ende der 1960er Jahre beobachtet und als Linker mit jüdischen Wurzeln so verzweifelt in seinen Texten beklagt. Ebenfalls 1976 fügte er dem die Beobachtung hinzu: „Aus der Nahost-Frage wird im Nu eine neue Judenfrage“ (S. 101), was ihn direkt zu großer Sorge führt: „Und wie eine solche beantwortet wird, das wissen wir aus der Geschichte“ (ebd.). So wird der Antisemitismus, dessen vulgäre braune Spielart verpönt und geächtet war, „im Kleide des Anti-Zionismus wieder ehrbar“ (ebd.). All dies ließe sich endlos mit aktuellen Ereignissen illustrieren, angefangen von Demonstrationen und antijüdischen Parolen vor Synagogen, wenn doch vordergründig Maßnahmen der israelischen Regierung gemeint sind.
Die Essaysammlung von Jean Améry ist das Buch der Stunde. Die kurzen und überaus lesenswerten Artikel und Reden sind aktueller und näher am Zeitgeschehen als so manche Publikationen der letzten Monate. Er war tatsächlich, wie Irene Heidelberger-Leonard in ihrem vorzüglichen Vorwort schreibt, „seiner Zeit 50 Jahre voraus“ (S. 7). Was Améry aber damals noch als den „neuen Antisemitismus“ bezeichnet, ist heute nicht mehr neu, sondern tief verwurzelt in Teilen eines sich selbst als links, progressiv und aufgeklärt verstehenden Milieus, aber auch weit darüber hinaus. Dies historisch durch Amérys Texte und das erhellende Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard verortet zu haben, ist nur eines der Verdienste des Buches. Améry legt in seinen Texten den Wesenskern dieses „neuen Antisemitismus“ frei und die Lektüre des Bandes zeigt: Dieser „ehrbare Antisemitismus“ hat seinen Platz in unserer Gesellschaft, seit über 50 Jahren und fester denn je.