Es fehlt in der Geschichte des Holocaust nicht an Beispielen für den grenzenlosen Zynismus der Täter (weit überwiegend waren es Männer): Deportationen aus den Gettos und die damit einhergehenden lokalen Erschießungen von Kranken und anderen setzten sie mit Vorliebe an jüdischen Feiertagen an, sie verhöhnten ihre Opfer auf vielfältige Weise, fotografierten dies und sie gaben ihren Mordaktionen gerne zynische Tarnbezeichnungen. Die „Aktion Erntefest“, von der dieser Band von Steffen Hänschen und Andreas Kahrs handelt, ist hierfür ein Beispiel. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein bis heute kaum wahrgenommenes zweitägiges Massaker. Am 3. und 4. November 1943 erschossen deutsche SS-Männer und Polizisten mehr als 42.000 jüdische Männer und Frauen in den Lagern Majdanek, Poniatowa und Trawniki. Dieser von Himmler befohlene Massenmord in der Region Lublin war, darauf weisen die Herausgeber in ihrer vorzüglichen Einleitung hin, der eigentliche Schlusspunkt der „Aktion Reinhardt“, der Ermordung der Jüdinnen und Juden aus Polen und anderen Ländern in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Der Häftlingsaufstand im Vernichtungslager Sobibor am 14. Oktober 1943, dem bereits ein Aufstand in Treblinka vorangegangen war, war wahrscheinlich der Auslöser für Himmlers Befehl. Diesen Kontext sowie den Weg der Opfer, die unter anderem aus dem Warschauer Getto in die betreffenden Lager zur Zwangsarbeit deportiert worden waren, stellen Hänschen und Kahrs in ihrer Einleitung vor.
Die Herausgeber versammeln in drei Abschnitten Zeugnisse Überlebender des Massenmords vom November 1943 aus den drei Lagern. Vorangestellt sind den Abschnitten jeweils kurze Einleitungen, die Auskunft über die Geschichte des jeweiligen Lagers sowie den dortigen Verlauf der Erschießungen geben. Jedem Zeugnis stellen sie überdies Informationen zur berichtenden Person voran, so dass alle versammelten Texte kenntnisreich kontextualisiert sind. Damit liegen auf Deutsch erstmals umfassend Zeugnisse zu diesem wichtigen Ereignis in der Geschichte des Holocaust vor. Helge Grabitz und Wolfgang Scheffler hatten 1988 zwar Auszüge aus den Aussagen von zwei Überlebenden wiedergegeben, sich sonst aber vor allem auf Täterdokumente gestützt; ein polnischer Sammelband von 2009 legte den Schwerpunkt ebenfalls auf Täterquellen sowie auf Dokumente des nichtjüdischen polnischen Untergrunds.
Die in Ausnahmefällen gekürzten Berichte der Überlebenden zeugen nicht allein vom Massenverbrechen des 3. und 4. November. Kahrs und Hänschen haben sie dankenswerterweise nicht auf diesen engen Fokus hin gekürzt. So zeichnet Ludwika Fiszer beispielsweise ein eindrückliches, nur schwer erträgliches Bild von der Erschießung selbst, bei der ihre neben ihr in der Grube liegende Tochter erschossen wird, sie selbst aber der tödlichen Kugel entgeht. Nachts kann sie sich aus dem Grab befreien und fliehen, wobei sie auf andere Davongekommene trifft. Ihre Flucht, die Zurückweisungen, Denunziationen, die Angst aber auch die Hilfe von Nichtjuden sind ebenfalls Thema ihres Berichts. So wird ein Eindruck vermittelt, was es hieß, zu fliehen und sich vogelfrei und gehetzt durchzuschlagen. Diese von Jan Grabowski treffend als „Judenjagd“ bezeichnete Phase des Holocaust ist seit einigen Jahren in der polnischsprachigen Holocaustforschung breit thematisiert worden, während sie hierzulande weiterhin unterbelichtet ist.
Steffen Hänschen und Andreas Kahrs, die mit dem Bildungswerk Stanisław Hantz seit vielen Jahren Bildungsreisen auch in die Region Lublin unternehmen und dort den Spuren der Gettos und der Lager der „Aktion Reinhardt“ folgen, bleiben in ihren Einleitungen zu den Lagern nicht beim Kriegsende stehen. Vielmehr geben sie jeweils kurze Informationen über das Gedenken an diesen Orten. So ist insgesamt ein Buch entstanden, das hoffentlich mehr Aufmerksamkeit für ein vernachlässigtes Kapitel in der Geschichte des Holocaust schafft und das der bislang dominierenden Perspektivverengung nun eine breite Grundlage von Zeugnissen Überlebender an die Seite stellt. Und schließlich lädt es dazu ein, mit diesen Stimmen die Orte und die Region zu erkunden, wo dieser Massenmord stattgefunden hat und wo mit ihm eine jahrhundertealte jüdische Geschichte letztlich brutal beendet wurde.