Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt

Tim Lorentzen hat mit dem Band „Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt“ eine Ereignisgeschichte des Gedenkens an Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in den Jahren 1945 bis 2006 vorgelegt. Dass es sich hier um eine Ereignisgeschichte handelt, ist an dieser Stelle eigens zu betonen, da Lorentzen nicht daran interessiert ist, die Rezeption von Bonhoeffers Wirken zu untersuchen, sondern die Funktion der Gedenkakte an seinen Widerstand in der jeweiligen Gegenwart zu eruieren. Dazu bezieht er sich auf rituell oder kulturell gerahmtes Gedenken an Gedenkorten oder anlässlich verschiedener Gedenktage, wie Bonhoeffers Geburts- und Todestag oder den 20. Juli, um diese Reziprozität nachzuzeichnen sowie Rückschlüsse auf die so betriebene Geschichtspolitik (in engem Anschluss an Edgar Wolfrum [*1960]) zu ziehen.

Auf Basis dieser Herangehensweise kann Lorentzen drei Phasen des Bonhoeffer-Gedenkens abgrenzen, die sich chronologisch an das zuvor separat betrachtete Jahr 1945 anschließen und auf folgende Weise zu charakterisieren seien: Martyrisierung (1946–1961), Politisierung (1962–1989), Sanktifizierung (1990–2006). Das Jahr 1945 zunächst geprägt von der Ungewissheit in Hinblick auf Bonhoeffers Ergehen wurde nach dem Bekanntwerden seines Todes zum ersten Erinnerungsjahr und zeitigte als wichtigsten und als medial am breitesten begleiteten Gedenkakt den nach der anglikanischen Allerheiligenliturgie gefeierten Gottesdienst des Bischofs von Chichester, George Bell (1883–1958) in London. Dieser war es auch, der einerseits Bonhoeffers politische Konspiration weiten Kreisen erstmals bekannt machte, und andererseits Bonhoeffers Deutung als Märtyrer popularisierte. Der folgende Zeitabschnitt der Martyrisierung führte mit der ersten Verbreitung einzelner Schriften Bonhoeffers, der Rehabilitierung von seinem Hochverratsvorwurf durch den sogenannten Remer-Prozess 1952 sowie der beginnenden populärwissenschaftlichen und religionspädagogischen Auseinandersetzung mit seiner Person zu einer Ausweitung des Gedenkens auf Memorantenkreise, die nun nicht mehr vorrangig aus Personen bestanden, die persönlich mit ihm bekannt waren, zeitigte die erste Entstehung von Gedenkorten ohne biographischen Bezug und führte in seiner Funktion über den kirchlich-liturgischen Bereich hinaus. Die folgende Phase der Politisierung zeichnete sich durch ein verstärktes Interesse an Bonhoeffers Theologie und deren Anwendung auf ethische Fragestellungen sowie die weitere internationale Ausweitung des Gedenkens aus. In diesen Zeitraum fallen die Entstehung und durch politische Okkupation später auch das Zerbrechen einer ökumenischen und friedensinitiativlichen Gedenkgemeinschaft, die kirchliches und politisches Erinnern verband, die Inanspruchnahme von Bonhoeffers Verantwortungstopos für den Konziliaren Prozess, insbesondere durch Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007), sowie zugleich aber auch eine Entgegensetzung des Bonhoeffer-Gedenkens zu einer politischen Vereinnahmung in der DDR oder zu tagespolitischem Umweltaktivismus wie im Fall der Installation des Bonhoeffer-Denkmals an der Petrikirche in Hamburg 1979. Die dritte Phase, die Sanktifizierung, ließ die politischen Aspekte des Gedenkens zugunsten einer Individualisierung zurücktreten, die sich mit einem erbaulichen Impetus orientiert an Bonhoeffer als Vorbild im Glauben verband, und einer Entproblematisierung, die den Kernbestand der Theologie und Ethik Bonhoeffers, das Ringen um die verantwortliche Schuldübernahme, mit dem plakative Reden über den exemplarischen Heiligen häufig überlagerte. Demgegenüber ermöglichte Bonhoeffers Verständnis als Heiliger nunmehr Anknüpfungspunkte für überkonfessionell-ökumenisches Gedenken, das auch Eingang in den liturgischen Raum katholischer, anglikanischer, orthodoxer und lutherischer Kirchen fand. Dennoch dürften, wie Lorentzen zu bedenken gibt, trotz aller ökumenischer Offenheit konfessionelle Unterschiede auf diese Weise nicht nivelliert, sondern vielmehr als Ausgangspunkt für eine Ökumene der Schuld als Thema einer gemeinsamen Erinnerungskultur Europas aufgefasst werden und Bonhoeffers Sanktifizierung sinnvollerweise als Impuls eines Seins-für andere aufgriffen werden. Diese wesentlichen Wegmarken des Bonhoeffer-Gedenkens lassen sich knapp und pointiert auch in Lorentzens Beitrag Phasen und Funktionen des Bonhoeffer-Gedenkens in Deutschland in dem Sammelband Zwischen Verklärung und Verurteilung (2017) nachlesen.

Erweitert wird seine Darstellung in dem vorliegenden Band über das konkrete Bonhoeffer-Gedenken hinaus durch abschließende Überlegungen zu spezifisch kirchenhistorischen Themen christlicher Gedächtnisforschung (etwa auf Aspekte wie die Relevanz von Trauer und Geschichte, Schamverdrängung oder Schuldbekenntnis, Ökumene und Globalisierung) sowie der Mahnung, eine Ereignisgeschichte des Gedenkens an Gedenkorten sowie -tagen, speziellen Ritualen und Medien zu orientieren, um ihrer Gestalt als einer zur Beliebigkeit verkommenen Rezeptionsgeschichte vorzubeugen, und Gedächtniskultur nicht als Spiegel ihrer Zeit, sondern als ihre Gegenwart aktiv gestaltend und beeinflussend verstehen zu können.

In gut lesbarer, allerdings unter Verwendung der alten Rechtschreibung abgefasster, informativer und strukturierter Weise gelingt es Lorentzen, die von ihm angestrebte Ereignisgeschichte des Bonhoeffer-Gedenkens nachzuzeichnen und durch die Rezeption einer reichen und sehr diversen Quellengrundlage, die Gedenkakte anschaulich in ihren zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Trotz des Bestrebens, Gedächtniskultur funktional und anhand der Wechselwirkung mit ihrer Umgebungsgeschichte darzustellen, bleibt eine bedachtsame Unterscheidung der Ebene des Einflusses der Zeitgeschichte auf die Memoria sowie umgekehrt von der Einwirkung des spezifischen Bonhoeffer-Gedenkens auf die zeitlich-politische Umgebung vielfach unberücksichtigt, wenngleich gerade eine solche Abgrenzung – in der methodischen Durchführung sicherlich nicht ohne Schwierigkeiten umsetzbar – das Anliegen der Untersuchung womöglich noch besser herausstriche und eindrücklicher machte. Auch die aktivisch formulierten Oberbegriffe der einzelnen Zeitabschnitte der Bonhoeffer-Memoria (Martyrisierung, Politisierung, Sanktifizierung) suggerieren deren intentionale Gestaltung, gleichwohl sich deren Arrangement vielleicht auch gesamtgesellschaftlich allgemeineren Strömungen verdankte. Lorentzens Überlegungen zu einer dezidiert kirchenhistorisch betriebenen Gedächtnisforschung und der Nachweis der Anschlussfähigkeit an allgemeinhistorisches Vorgehen sowie dessen Methodik ermuntern, insbesondere theologische Sprachfähigkeit für eine ereignisgeschichtliche Darstellung gedächtniskultureller Aspekte produktiv zu gebrauchen und für die Auseinandersetzung mit dieser spezifischen zeithistorischen Inanspruchnahme des Christlichen zu nutzen. Ergänzt wird der Band durch 42 Abbildungen, die spezielle Aspekte der Gedenkakte illustrieren, und Register zu Personen und Gruppen, Orten sowie Bibelstellen.