David Ben Gurion
Ein Staat um jeden Preis

Er ist, laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung, „der klügste Historiker Israels und auch noch einer der besten Erzähler.“ Bei uns wurde er zuerst durch „Die siebte Million“ bekannt (1995; 1991 Jerusalem; 1993 New York), einer dezidierten Abrechnung mit „Israels Politik der Erinnerung“, so der Untertitel. Es geht um den Umgang des Judenstaates mit der Shoah: Die Hoffung der Überlebenden auf Erlösung aus dem Grauen des Massenmords richtete sich auf das Gelobte Land, auf Palästina und die dort lebenden Juden. Ihre Hoffnung wurde getäuscht. Statt auf Mitgefühl und Solidarität stießen sie auf Verdächtigungen, statt auf Interesse auf eisiges Schweigen: Wie die Lämmer seien sie zur Schlachtbank gegangen, statt im Widerstand kämpfend zu sterben, lautete der Vorwurf. Passiv, ohne Widerstand hätten die Juden in der Diaspora ihr Schicksal verdient. Wer aber überlebte, sei schuldig geworden, denn nur durch Egoismus hätte der Betreffende sich gerettet, während andere starben.

Tom Segevs Schilderung setzt mit den dreißiger Jahren an, als es um die Frage einer jüdischen Staatsgründung ging. Er beschreibt die Jahre des ersten wirtschaftlichen Aufschwungs, um Fragen der Infrastruktur, um siegreiche Fußballspiele der jüdischen Siedler – all dies ließ kaum Platz für eine Nachricht über die Massenmorde an Juden und Jüdinnen in Europa; Segev berichtet über die Nachkriegszeit, in der die Israelis über die Massenexekutionen, über Folter und Gaskammern schwiegen – war doch der „Diasporajude“, der Jude des „alten Typus“ umgekommen, der nichts gemein hatte mit dem „neuen Menschen“, der das Land urbar macht und weniger ein „Stubengelehrter“ als ein Bauer war.

Eine Zäsur bedeutete in den 1960er Jahren der Eichmann-Prozess, der eine Offenbarung und Therapie für den Judenstaat bedeutete. Die Menschen begannen endlich zu begreifen, dass die Shoah Teil ihrer eigenen Geschichte sein würde; sie fassten Mut, den Überlebenden zuzuhören. Seitdem sind in Israel viele Entscheidungen – wie der Sechstagekrieg, der Bau der Atombombe – im Schatten der „Endlösung“ getroffen worden. Mit den Jahren, so Segev, wurde die Lehre, die aus der Shoah gezogen werden könnte, zu einem „bizarren Kult der Erinnerung, des Todes und des Kitsches“ verzerrt. Man hat die Shoah popularisiert, materiell ausgenutzt und für politische Zwecke missbraucht. Dies belegt Segev anhand einer Fülle bisher unbekannter Dokumente, die ergänzt werden durch Interviews.

Das Problem: Je mehr die Shoah zeitlich zurücktritt, umso unmittelbarer rücken die Lehren, die ihr zugeschrieben werden, in Israel in das Zentrum heftiger Auseinandersetzungen über Politik und Moral der Gegenwart und Zukunft.

Ein zentrales Buch, ein wichtiges Buch – auch für uns Deutsche.

Segevs erste, in Deutschland bekannte Buchpublikation war 1992: Die Soldaten des Bösen: Zur Geschichte der KZ-Kommandanten.

Es folgten in rascher Folge, von bedeutendem Range, „Biographien“ des Judenstaates: Elvis in Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft (New York 2001; dt. 2003), Es war einmal in Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels (New York 2000; dt. 2005), 1967. Israels zweite Geburt (New York 2007; dt. 2007), Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates (New York 1986; überarbeitet 1998; dt. 2008).

Aufregend, von einem großen Spannungsbogen getragen ist seine Biographie des „Nazijägers“ Simon Wiesenthal (Jerusalem 2010; dt. 2010, Siedler Verlag, München). Es ist ein so großartig geschriebenes Buch – dass man es atemlos am liebsten Tag und Nacht lesen möchte, alle andere Pflichten ignorierend – und dass ich am liebsten nur über diese Biographie schreiben würde. Doch meine Aufgabe ist heute eine andere.

Tom Segevs neueste Arbeit, eine Biographie des streitbaren Staatengründers David Ben Gurion hält nicht, was es verspricht und bereitete mir eine Enttäuschung.

70 Jahre Israel – die „große Biographie“ des Staatengründers Ben Gurion kam 2018 im rechten Moment. Er ist eine der großen Gestalten des 20. Jahrhunderts. David Grün, 1886 im Russischen Reich geboren, nennt sich seit seiner Ankunft in Palästina 1906 Ben Gurion, d. h. „Sohn des Sterns“. Segev berichtet: „Josef Ben Gurion war ein hebräischer Staatsmann im ersten nachchristlichen Jahrhundert, der zusammen mit dem Hohepriester die Führung in Jerusalem unternahm. Seinerzeit entflammten dort handfeste Proteste gegen die Römerherrschaft, bei denen es auch zu mörderischen Zusammenstößen innerhalb der jüdischen Bevölkerung kam. Josef Ben Matitjahu (Flavius Josephus) lobte den Hebräer mit den Worten, er sei ‚ein guter Volksführer und erfüllt von Freiheitsliebe, mehr als alle anderen Juden.‘ Ben Gurion widmete sich der Befestigung Jerusalems. Bei einem der Ausbrüche tollwütigen Fanatismus, die die Stadt heimsuchten, wurde er ermordet. Josephus zufolge hatte ihm nicht nur seine vornehme Abkunft den Tod gebracht, sondern auch ‚seine offenherzige Rede‘. Anscheinend verlor er sein Leben bei dem Versuch, sein gespaltenes Volk vor sich selbst zu retten. Josephus sprach nur von seinen hervorragenden Qualitäten als Staatsmann, als sei dieser Mann als Held auf die Welt gekommen und habe keine Vergangenheit, so wie David Den Gurion gern glaubte, als Zionist geboren worden zu sein. Namenswechsel waren damals üblich. Sie standen für die Aufgabe des Diasporalebens und eine neue hebräische Identität im Land Israel. Auch der Vorname des historischen Josef Ben Gurion passte für David Josef Grün.

Er mochte Josephus‘ Schriften seit Langem. [...] Rachel Jannait, ehemals Golda Lischanski, las viel Flavius Josephus und besprach seine Bücher im Unterricht am Gymnasium. Ben Gurion könnte auch gewusst haben, dass Micha Josef Berdyczewski, den er als Schriftsteller verehrte, schon 1899 denselben Namen angenommen hatte. Wie dieser schrieb er zunächst ‚Ben Gorion‘ und erst später Ben Gurion. Und da war noch etwas: Der große Gegenspieler des historischen Ben Gurion war Schimon Bar Giora. Er fungierte bei Josephus als gewalttätiger Anführer einer brutalen Terrorbande, der als Diktator das ganze Land beherrschen wollte. Einer seiner Leute war offenbar Ben Gurions Mörder. Und so integrierte David Josef Grün seine Abneigung gegen Bar Giora und den Haschomer in seine neue Identität.“

Früh engagierte er sich für den Zionismus und die Unabhängigkeit eines jüdischen Staates Als er 1948 schließlich den neuen Staat ausrief, setzte er die Interessen Israels um jeden Preis durch, auch auf Kosten der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Über Ben Gurion zu schreiben bedeutet zugleich eine Weltgeschichte Israels im 20. Jahrhundert zu schreiben, eine große Herausforderung. – Der Segev diesmal nicht gewachsen war. Warum?

Der Text ist zäh, langwierig wie ein Kaugummi. M. E. ist diese Biographie nicht genügend fokussiert – was doch in Segevs Wiesenthal-Biographie so hervorragend gelungen war. Kürzen, Konzentration auf Wesentliches hätte der Ben-Gurion-Biographie gutgetan. Auf Seite 110 geht es immer noch um die Anfänge Ben Gurions, seine Arbeit als Übersetzer. Ab Seite 142 kommt langsam Fahrt auf; es geht um die Balfour-Deklaration (auf die Segev bereits in Es war einmal in Palästina intensiv eingegangen war). Die Balfour-Deklaration habe, so Ben Gurion, „den Zionismus mit einem Schlag – „wie durch ein Wunder“ – „an die Schwelle der Verwirklichung“ gebraucht, doch es bliebe noch die hebräische Heimat aufzubauen, und das sei „eine wichtigere und schwierigere“ Aufgabe als die Erlangung der Deklaration.

Bei verschiedenen Anlässen wird er als Redner in den Medien der Zeit rühmend hervorgehoben.

Ende 1918 meldete er sich beim britischen Konsul in New York und einige Wochen später leistete er „den Treueeid auf die Streitkräfte Seiner Majestät und fuhr zur Grundausbildung nach Windsor in Kanada. In dieser Zeit schrieb er viele Briefe an seine junge Frau Pauline, Paula genannt. „Schon damals hatte er Mühe, seine Zeit zwischen Arbeit und Liebe aufzuteilen.“

Der Dienst in der Legion war ihm wichtig: denn er „fügte seiner politischen Biographie endlich ein militärisches Kapitel an“.

Dieser Biographie fehlt über etliche Strecken die Stringenz, Ambitioniertheit, Geschlossenheit und Avanciertheit des letzten – des 25. Kapitels (worin Ben Gurions historische Aufgabe und seine politischen Leistungen gewürdigt werden), vor allem aber der Wiesenthal-Biographie. Ob es an der Übersetzung liegt? – fraglich: Ruth Achlama ist eine gute und erfahrene Übersetzerin.

Wer eine konzentrierte Biographie (496 Seiten; mit einer Zeittafel) Ben Gurions lesen will, ist immer noch mit Michael Bar-Zohars David Ben Gurion. 40 Jahre Israel .Die Biographie des Staatsgründers (1988; London 1978) gut bedient. Und was die Situation der Palästinenser betrifft, so gibt es eine aufschlussreiche Arbeit über Ben Gurions verhängnisvolle Entscheidungen („Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches“: David Ben Gurion, 1938) von Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas“ (Oxford 2006; dt. 2007). Am 10. März 1948 treffen sich David Ben Gurion und elf führende Vertreter der jüdischen Einwanderer in Tel Aviv; sie beschließen die ethnische Säuberung Palästinas. Noch während des britischen Mandats begannen die Angriffe, geführt von Moshe Dayan (später Ministerpräsident und Außenminister) und Yitzhak Rabin (später Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger). Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer werden zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht; 800 000 Menschen fliehen. Es kommt zu Vergewaltigungen, zu Plünderungen und Massakern auch an Frauen und Kindern. Heute bedecken Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen die einstigen Dörfer. Golda Meir, 1969: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht, hat nie existiert.“ Ilan Pappes Aufzeichnungen, basierend auf neu zugänglichen Dokumenten aus israelischen Militärarchiven, stehen zur offiziellen Geschichtsschreibung und dem Gründungsmythos Israels in eklatantem Widerspruch. Doch sich der historischen Wahrheit zu stellen ist für Ilan Pappe eine moralische Entscheidung – und ein erster Schritt, um die Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu beenden. Pappe war Leiter des Friedensforschungsinstituts in der Bildungs- und Begegnungsstätte Givat Haviva und lehrte bis Anfang 2007 politische Wissenschaften an der Universität Haifa. Er geriet fachlich und politisch wiederholt in Konflikt mit der Universitätsleitung, bis er schließlich die Hochschule mit der Begründung verließ, es sei zunehmend schwierig, mit seinen unwillkommenen Meinungen und Überzeugungen in Israel zu leben. Er siedelte daher nach Großbritannien um, wo er eine Professur für Geschichte an der Universität Exeter innehat.