„Du mein Brot und mein Wein, mein Haus mein Garten, mein Bett darin ich schlafe.“ Zu einem Briefband Christine Lavants mit Werner Berg und einer biographischen Arbeit von Klaus Amann
Er war ein bedeutender Maler und sie eine noch bedeutendere Dichterin. Ihre Liebe hat das Werk beider entscheidend geprägt; für beide war die Liebesbegegnung eine biographische Zäsur. Die Korrespondenz zwischen Werner Berg und Christine Lavant ist der einzige Briefwechsel der Dichterin, der nahezu vollständig erhalten geblieben ist – wohl von ersten Briefen Bergs abgesehen, die die Dichterin aus Angst vor dem Ehemann (den sie 1939, wohl um Schutz zu finden, geheiratet hatte), vernichtete – von viele anderen Korrespondenzen ist etliches verloren – nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern auch, weil im winzigen Dachzimmer, das die Dichterin mit dem Ehemann, dem 34 Jahre älteren Maler Josef B. Habernig (in der Korrespondenz mit Werner Berg nur H. H. oder H. Hab. oder Habernig abgekürzt), teilen musste, kein Platz war für ein sorgfältig geführtes Archiv. Der Künstler und die zarte, kränkliche Dichterin lernten sich bei einem Treffen von Künstlern im Jahr 1950 kennen. Es begann eine der leidenschaftlichsten, intensivsten, aber auch lebensgeschichtlich wohl am stärksten belastenden Liebesgeschichten, die es in der jüngsten Kunst- und Literaturgeschichte gibt.
Christine Lavant (eigentlich Christine Thonhauser) war in den 1950er Jahren berühmt gewesen, sie errang mehrere Literaturpreise, geriet aber dann lange in Vergessenheit. Es ist das Verdienst des Göttinger Wallstein Verlags, der nicht nur (zwischen 2014 und 2018) eine vierbändige Werkausgabe herausbrachte (der vierte Band enthält Unpubliziertes der Dichterin), sondern 2023 auch eine Biographie, von Klass Amann, aus Zitaten und Bildern der Dichterin montiert, und jetzt den dickleibigen Briefband (1088 Seiten!) und außerdem, ausgewählt und herausgegeben von Jenny Erpenbeck, Christine Lavant. Seit heute, aber für immer“. Bereits 1997 hatte der Salzburger Otto Müller Verlag Lavants Briefe an die Dichterkollegin Ingeborg Teufenbach herausgebracht und 1978 eine Auswahl Gedichte, Prosa und Briefe, Titel: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben; 2003 veröffentlichte der Verlag Lavants Briefe an Maja und Gerhard Lampersberg. Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus wurde erstmals 2001 publiziert (dieser Text war zu Lebzeiten der Dichterin aus nahe liegenden Gründen nie gedruckt worden; die Übersetzerin Nora Purtscher Wydenbruck, die in England lebte, hatte das Typoskript aufbewahrt; erst Mitte der 1990er Jahre hatte man angefangen, den umfangreichen Nachlass der Freundin und Förderin Lavants auszuwerten).
Christine Lavant hat ca. 1500 Gedichte und 1500 Seiten Prosa veröffentlich (die Tausenden von ihr vernichteten Seiten nicht mitgezählt). Die Dichterin war „ein armes Strickweiblein“ („Mit diesem habt ihr gar nichts gemein. Diese hat ein schlechtes, zusammengeschrumpftes Stück Leben, den abgenutzten Lappen eines von Haus aus wertlosen Lebens. Niemand von euch würde diesen Lappen auch nur mit Handschuhen anfassen wollen“) und eine geniale Dichterin. Mit dem Stricken verdiente sie für sich und ihren Mann, einen enterbten Gutsherrn und brotlosen Künstler, den Lebensunterhalt. Wenn ihr Mann, in Sichtweite (die schmale Dachkammer, in der beide hausen, ist kaum zehn Quadratmeter groß) schläft, schreibt sie mit der Hand, um den Schläfer nicht zu stören. Tagsüber „klopft“ sie ihre Texte auf der Schreibmaschine, die ihr die Frau ihres Arztes 1946 geschenkt hatte. Manche Gedichtentwürfe und Gedichte versteckt sie zwischen anderen Papieren, damit ihr Mann sie nicht findet, mit dem sie sich beinahe fünfundzwanzig Jahre hinweg die Dachkammer, diesen einzigen Raum, teilt. Und auch nach seinem Tod, als sie Preisträgerin des Großen Österreichischen Staatspreises und zweifache Georg-Trakl-Preisträgerin ist; als der junge Thomas Bernhard und das mäzenatische Ehepaar Lampersberg (Gerhard Lampersberg ist Komponist und Schriftsteller) zu ihren Freunden zählen; als sie mit dem Philosophen und Religionswissenschaftler Martin Buber, mit Nelly Sachs und Hilde Domin im Austausch steht: auch da wohnt sie in dieser Dachkammer in St. Stefan.
Sie kennt es nicht anders; und dann die herzabdrückende Armut: Auch als Kind hat Christine, zusammen mit Eltern und sechs Geschwistern, in einer Stube gewohnt. Lassen wir sie selbst berichten: „Ich wurde am 4.7.1915 geboren. Mein Vater war Bergarbeiter hier in St. Stefan. Meine Mutter hat tagsüber für die Bauern genäht und dann bis spät hinein gestrickt und gelesen. Wir hatten nur eine einzige Stube und ich war das neunte Kind und von Geburt an schon krank. Bis zum Schulbeginn hat sich mein Leben fast nur in dieser Stube abgespielt und in der zweiten verzauberten Stube die man im Spiegel drin sehen konnte wenn man im Mutter-Bett lag. Diese Verdoppelung und Verzauberung der armen aber inständigen Wirklichkeit ist vielleicht schuld daran dass ich eine Dichterin wurde“, erklärt sie in einer Selbstdarstellung für den Dänischen Rundfunk im Jahre 1957. Der Neffe der Dichterin, Erich Kucher, berichtet in seiner 45 Seiten umfassenden Hausarbeit für die Lehrbefugnis an Hauptschulen aus dem Jahre 1958 über die häuslichen Verhältnisse, die äußerst bedrückend waren, und die er als Kind selbst noch erlebt hatte (man komme mir nicht mit „einfachen Verhältnissen“ – sie sind im Gegenteil äußerst kompliziert; einfache Verhältnisse sind dort, wo es einen „Geldhintergrund“ gibt, um eine Formulierung Franziska zu Reventlows zu benutzen: wo die Wohn- und Lebensverhältnisse angenehm sind, frei von Sorgen, Zukunftsangst und Mühsal): „Selbst an diesem schweren Abend“ musste die Mutter „noch bis zehn Uhr abends die Wohnung säubern. Erst dann holte sie ihre Schwester und brachte, wie vier andere Kinder, das schwächliche Mädchen ohne Beistand von Hebamme oder Arzt zur Welt. Nach zwei Tagen war sie bereits wieder in das Joch der so gerne für die Kinder zu verrichtenden Arbeit eingespannt. An dieser Wiege standen seltsame Paten: das graue Gesicht der Not, schimmelige und feuchte Wände, sechs Paar ablehnende und hungrige Kinderaugen (…)“. Die Not wurde noch dadurch verschärft, dass der Vater eingerückt war. „Durch missliche Umstände erhielt die Familie ein Jahr lang keine Unterstützung und die blanke Not war immerwährender Gast. Es war ein seltsames Bild, das die Einrichtung dieser Stube bot. Heute wie ein schauriges Märchen anmutend, wird es trotzdem manchmal noch Wirklichkeit an Orten bitterster Menschennot. Den Augen der Thonhauserkinder war es längst ein gewohntes Bild, das nur manchmal, in Vergleichen, bis ins Bewußtsein drang. Drei Kinder schliefen bei der Mutter im Bett, eines auf dem alten Divan, zwei auf einem Bett im Keller und das Kleinste in einer großen Schublade, die tagsüber unter das Bett geschoben wurde. Um den hungrigen Mäulern wenigstens etwas zu geben, musste die Mutter, die selbst neben sieben Kindern Tag und Nacht nähte und strickte, die älteren zu den benachbarten Bauern, die durchweg Verwandte waren, zur Arbeit schicken. Dort erhielten sie ihr wahrhaft dürftiges Essen und konnten hungernd der Mutter schon früh helfen.“
Christine Lavants Leben vor der Begegnung mit Werner Berg ist „wie Material zu einem Schundroman“, schreibt Peter Kümmel (in ZEIT ONLINE vom 13. Mai; zuerst in Die Zeit Nr. 21/2024), „doch es ist alles wahr“. Die Dichterin weiß nicht, aus welchen Quellen sich ihre poetische (wörtlich: Welten erschaffende) Kraft speist. Die Auseinandersetzung mit Gott prägt Lavants Werk: Die Auflehnung gegen ihn. Allerdings nicht schäumend wie Büchners Lenz, der Gott „zwischen seinen Wolken schleifen“ will, sondern „auf duldende Weise aufsässig“ (Kümmel). Sie spricht vom „zornigen Mut“ vor Gott, und
„Heb deine Hand und schlage mich nieder, / ich werde dann nur um so höher springen, / und du wirst mich ewig vor Augen haben, / den kleinen roten, zornigen Ball.“
Und: „Jede Stelle wirft mich zu dir zurück, / weil du mich von jener einzigen Stelle, / wo ich Herz war und freudig und weich wie ein Vogel, / wegholtest, um mich zusammenzuballen / und ins ewige Leiden zu werfen.“
Ihre Gedichte: Flüche, Anmaßung, Demut – all das enthält dieses „Lästergebet“ (Ludwig von Ficker) oder „Fluchgebet“ (Hans Maier) an Gott – das eigentlich ein Geschoß ist, das sie, die „Zusammengeballte“, gegen ihn feuert. Sie selbst ist dieses Geschoß: der kleine rote zornige Ball, der Gott treffen will.
„Vergiß dein Pfuschwerk, Schöpfer!
Sonst wirst du noch zum Schröpfer
an dem, was Leichnam ist und bleibt
und sich der Erde einverleibt
viel lieber als dem Himmel. Geh, kleide weiter Lilien ein,
ätz‘ Sperlinge mit Honigseim –
ich leb von Rost und Schimmel.
Du meinst, das macht mich noch nicht satt,
und faselst von der Gottesstadt,
die viele sich erfasten.
Ich nicht! Ich wohne gern im Lehm,
um Stein zu werden und trotzdem
dich niemals zu belasten.“
Erich Kucher berichtet in seinen Aufzeichnungen, dass sich bei Christine schon sechs Wochen nach der Geburt eine schwere Hauttuberkulose zeigte; damals Skrofulose genannt: eine chronische Erkrankung, häufig bei Kindern aus sozial und hygienisch problematischen Verhältnissen; es kommt zu Entzündungen an Hals-, Leisten- und Unterleibsdrüsen, schweren Ekzemen, Entzündungen der Luftröhre und der Augen, mit der Gefahr der Erblindung, Augen- und Ohrenentzündungen (bis hin zu drohender Taubheit), mit Geschwüren und eitrigem Ausfluss. Christine litt bis zu ihrem 12.Lebensjahr, bis sie durch hochdosierte Röntgenbestrahlungen geheilt wurde. Es blieben allerdings Narben zurück; ihre ganze rechte Körperhälfte blieb nahezu gefühllos. Mit drei Jahren erkrankte Christine an Lungenentzündung; diese Krankheit erlitt sie seitdem fast jedes Jahr.
Die Schule ist für das sensible und kranke Kind, das oft mit verbundenem Kopf herumlaufen muss, eine Tortur, „obwohl Christine eine Vorzugsschülerin war und spielend lernte“. Sie „besuchte seit 1922 eine dreiklassige Volksschule in St. Stefan“, berichtet der Neffe. „Da sie immer kränkelte, ein unhübsches Kind war und obendrein wochenlang das Gesicht verbunden trug, diente sie der Grausamkeit ihrer Mitschüler als Zielscheibe. Wohl versuchten Geschwister, liebevolle Kinder und Lehrer das Mädchen zu schützen. Doch der tägliche Schulweg und die Freizeit boten allzu viel Gelegenheit und so lebte das Kind in dauernder Furcht.“ An Otto Scrinzi (der die Erschöpfte 1963, nach einem Zusammenbruch nach dem Schlaganfall ihres Mannes, den sie pflegen musste, in seine Klinik aufnahm und sie betreute) schreibt die Dichterin im Dezember 1963: „(…) Wenn ich mich zeitlich richtig erinnere, so habe ich schon mit ca. 13-14 Jahren empfunden, dass es im Grunde nur drei völlig grauenhafte und wahrscheinlich auch fast unüberwindliche Zustände gibt gegen welche man so gut als möglich ankämpfen müsste. Scham, Ekel und Angst. Ich begann den Kampf gegen das mich damals am meisten quälendste (sic!) – die Scham. Es dauerte viele Jahre und das Ergebnis – seit kurzem erst kann ich es vielleicht richtig beurteilen ist kläglich, d. h. bloß eine Verschiebung auf eine andere Ebene. Den Ekel zu mildern hat mir das Leben einigermaßen beigebracht. Die Ur-Angst welche mit dem ersten körperlich Benachteiligten und daher auch untüchtig Geborenen auf der Erde erschien, kann ich teilweise allein, eher und gründlicher aber mit Hilfe großherziger Menschen betäuben. (…).“ In einer 1948 geschriebenen Erzählung berichtet Christine Lavant von einem grausamen, geradezu faschistischen Lehrer: Niemand will neben dem Mädchen mit dem verbundenen Kopf sitzen. Ihre Banknachbarin Maria, ein nicht sonderlich kluges und dickliches Kind, wird wegen eines Vergehens, das sie nicht begangen hatte, vom Lehrer verprügelt. Der Lehrer „schlug und schlug bis wir alle schon dachten es wären von ihr nur mehr die leergeschlagenen Kleider vorhanden.“ Das Kind hat nicht den Mut, dazwischen zu springen, doch als Maria aus der Klasse hinausgeworfen wurde, ging Christine auf den Lehrer zu und „sagte, weinend vor Wut: ‚Ich bin schuld, Herr Lehrer, warum schlagen Sie mich nicht?‘ … ‚Fahr ab, du Laus!‘ sagte er und da ich wusste ich, dass er ohnedies gemerkt hatte, wer die Ursache zu dem ganzen Vorfall gewesen war. Er machte dies denn auch noch allen klar, indem er an die die ganze Klasse gewendet immer noch wütend schrie: ‚Wenn man dieses Mergelchen da einmal anpacken möchte. blieben einem ja nur mehr ein paar Hendelknochen (d.h. Hühnerknochen) in den Fingern‘.“ Ein andermal nennt er Christine eine „blinde Krott“ (dieses Schimpfwort schreien ihr auch die Kinder nach, die ihr nach der Schule auflauern), weil sie das Katheter abstauben wollte und dabei die Uhr des Lehrers gefährdete. Die Kränkungen vergab sie ihm erst, als er bei einem Ausflug ein paar ausgelassenen Jungen, die das Mädchen fast umrannten, anschrie: „Könnt ihr denn nicht aufpassen, ihr Rotzlöffel, glaubt ihr, die Kleine ist bloß zum Niedertreten auf der Welt?“ Am 12. Dezember 1950 schreibt die Dichterin an Mauki Berg: „Ich bin als krankes und verunstaltetes Kind immerfort von den Meinen verzärtelt worden und davon ist mir das Zutunliche und Zutrauliche verblieben trotz aller bitterlichen Erlebnisse auf den Schulwegen. Nie ist (sic!) Spott und Gehässigkeit ungehindert bis an mein Herz gekommen, immer war wieder knapp davor eine Zärtlichkeit irgendeine liebreiche Geste, welche alle Spitzen sanft verbog.“
Die Neunjährige, die zu erblinden drohte, wurde zum Augenarzt Dr. Purtscher gebracht, der ihr Augenlicht rettete (die Frau dieses Augenarztes wird es sein, die Christine die erste Schreibmaschine schenkt). Eine ältere Schwester hatte das Mädchen zur 60 Kilometer entfernten Augenklinik in Klagenfurt gebracht. Da die Mädchen kein Geld hatten, legten sie die ganze Strecke zu Fuß zurück. In der erst posthum veröffentlichten Erzählung Bloß drei Tage schildert die Dichterin die Tortur der Röntgenbestrahlung, die sie von der Hauttuberkulose heilen sollen. Christine durchlitt Todesängste angesichts des „kleinen schwarzen Kastens“, der ihr „an das Gesicht geschraubt“ wurde; und offenbar hatte die Krankenschwester nicht aufgepasst und die Strahlendosis war zu hoch gewesen, was zu bleibenden Hautschäden führen sollte. Das Kind schreit Tag und Nacht vor Schmerz, das ganze Dorf kommt nicht zur Ruhe. Der herbeigerufene Arzt flucht angesichts der „Medizin“ der Dörfler, und entfernt den „Katzendeck“ mit Benzin vom Gesicht des Mädchens. Das Kind, wahnsinnig vor Schmerz, versucht durchs Fenster zu fliehen, bis eine Morphiumspritze „alles gut“ machte. Das Kind geht allein hinaus, spielt mit seinen Puppen am Fluss und fällt ins Wasser. „Nein, tot war das Mädchen nicht, der Mann, der in der Nähe mähte, hatte es zu rasch gefunden, aber es war wieder sehr lange und schwer krank ...“.
Und was war das Schreiben für sie? In der bereits erwähnten Selbstdarstellung für den dänischen Rundfunk von 1957 spricht Christine Lavant rückblickend von der „Schreib-Wut“ des jungen Mädchens, die sie für „eine überstandene Krankheit“ hält, die sie „nie mehr in mir aufkommen lassen wollte weil es sich für einen armen Menschen nicht gehört“. Eines der Grundthemen, die ihre Prosa ebenso wie ihre Lyrik durchziehen, ist ihre Herkunft aus ärmsten Verhältnissen und die dafür gesellschaftlich eingeforderte Haltung der Demut und Bescheidenheit. Aber diese Rolle liegt ihr nicht, sie schreibt sich davon frei. Doch die Not ihres Lebens hat auch ihren Blick geschärft für leeres Geschwätz, hat den Humor hervorgebracht, der ihr hilft, die Schwermut in Schach zu halten. In einem frühen Brief (aus dem Jahre 1946) schreibt sie: „Solange ich schreibe, bin ich glücklich, wenn es auch oft mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, von denen sich Wenige eine Vorstellung machen können. (…) Aber das Schreiben ist halt das Einzige, was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle u. zugleich die heilende Salbe.“
Was sah Werner Berg in ihr? Eine Frau, die mit Worten das wagt, was er in seinen Bildern – Ölbildern – Holzschnitten – Zeichnungen – versucht: Das Rätsel der Existenz zu verstehen, zu deuten. Schon im ersten erhalten gebliebenen Brief an sie beschreibt er einen Traum, in dem er „das Ihre und das Meine“ nicht mehr unterscheiden kann. „Ich trank mich endlich selbst in Ihre Augen hinein und konnte mit denen ungeahnte Herrlichkeiten sehen“ (im November 1950), Die zarte Frau bewegt den Maler aufs Tiefste: „Vom ersten Anblick Ihrer Person aber haben mich Schönheit, Seelenkraft; und Größe nicht anders getroffen wie der Blitz einst den Saulus vor Damaskus.“ Ja, nie habe ihn ein Mensch so erschüttert wie sie, bekennt er ihr, in ihr erkenne er „den Urgrund der Kunst im Menschen.“ Werner Berg, der 1930 mit Frau, Tochter und einem Freund auf einen entlegenen Bergbauernhof ohne elektrischen Strom und Leitungswasser, den Rutarhof, zog, wollte sich vom Kunstbetrieb, seinen Infamien, Verlogenheit, seinen Zwängen, seiner Vetternwirtschaft frei machen, unabhängig sein von Hypes und kurzfristigen Moden, auch wenn die Bewirtschaftung und der Erhalt des Bauernhofs viel Kraft von ihm forderte (und da war immer auch diese Angst, dass dann die nötige Kraft und Anspannung für das zu realisierende Werk fehlen). Später hat er 5 Kinder. In der Dichterin erkennt er eine wesensverwandte Seele; er spricht mit ihr in der Wir-Form: „Mit all unserem Kunst-Wesen wollten wir doch wohl nichts anderes, als ausgesetzt in jeglichem Wind des Lebens in Gefahren reicher leben, tiefer ergründen und stärker bezeugen.“ (Im November 1950) Dies betrifft tatsächlich den Kern beider Künstler/IN. Woraufhin sie, die auch verheiratet ist, antwortet: „Wissen Sie, dass es mich gräßlich stolz und eingebildet macht weil ein gewisser Werner Berg mich angeblich malen will? Können Sie sich das vorstellen? – : so ein armseliges Weiblein das ‚in der Blüte seiner Jahre‘ es nicht einmal zu einem einzigen Verehrer seiner ‚Reize‘ gebracht hat? Hee? Können Sie das ausdenken. Und nun auf die alten Tage soll es verewigt werden. Komischer Einfall eigentlich nichtwahr? Aber ich freu mich.“ (Christine Lavant am 12. November 1950). Dieses vorwitzig wie mündlich aus dem Brief schallende „Hee“ an den eigentlich Fremden nimmt vorweg, was dann folgt: Lavant und Berg treffen sich heimlich, lieben sich im Wald, vereinbaren heimlich Treffpunkte; inspirieren einander zu ihren größten Kunstwerken (alle Bilder, Holzschnitte und Bleistiftzeichnungen, die Berg von seiner Geliebten machte, sind in der Monographie Klaus Amanns wiedergegeben und in einer Ausstellung im Berg-Haus in Bleiburg bis Ende Oktober zu sehen). Er malt sie – sie erfasst seine Körperlichkeit in einem ihrer schönsten Gedichte (dem, finde ich, schönsten Gedicht der nicht nur neuen, sondern der Weltliteratur), in dem die Dichterin in ihrer „Neujahrslitanei“ Gott um diese so intensiv und leidenschaftlich beschriebene Liebe bittet:
„Lieber Gott, lass mir die Liebe.
Die mutige Liebe
zu der Stirne meines Geliebten
zu den Brauen meines Geliebten
zu den süßen Äpfeln seiner Augen
zu den beiden Wangenhügeln
zu den Flügeln seiner Nase
zu seinem Lippenpaar
zu dem wenig geküssten Kinn
zu Hals und Schultern
die vor Lachen hüpfen konnten
wenn man sie streichelte.
Zu dem zärtlichem Wäldchen auf seiner Brust
Und den beiden Beeren darin.
Zu allen seinen Rippen
und jedem Schlag seines Herzens.
Und dreimal mutige Liebe
zu den Gegenden seiner Lenden
und dem Baume des Lebens darin.
Zu den kindlichen Kehlen seiner Kniee
zu allen seinen Zehen
und noch einmal zurück hinauf
bis in die niemals vergessenen Haare.
Und dann die reinliche Liebe, o Gott,
gib mir zu allem diesen
und die wachhabende Liebe
die einsame Nächte überdauernde Liebe
die leidtragende Liebe.
Die Liebe zu seinen Ängsten
seinem bitterlichen Misstrauen
dem Hohnschwert in seinen Augen
der unwahren Rede seines Mundes
und den Feigheiten seines Herzens.
Aber wo sie jetzt jauchzend wird lasse sie
bei der Herrlichkeit seiner Seele
dieser verborgenen Seele
dieser wie in Bernstein eingeschlossenen Seele
bei ihrer Erkenntnis
bei ihrer Barmherzigkeit
bei ihrem Anschaun des Lichts
bei der Kraft ihrer Wirkung
beim Tun der der von ihr geleiteten Hände
wenn sie Tageswerk tun
wenn sie Samen säe und Unkraut reißen
wenn sie Nachtwerk tun
wenn sie die Lampe anzünden.
Wenn sie ein Buch vor sich hinlegen
Wenn sie auf einmal von allen Kräften durchleuchtet
Bildnisse schaffen ernst und einfach gehorchend.
Bilder der Erde und all ihrer Kreaturen
Bilder darin seine und Deine Kraft verborgen sind
Wie Eingesponnenes in Bernstein. (…).“
Das Gedicht trägt das Datum „I.I.1952“. Es spricht von Erfüllung, Freude am Körperlichen, an Sexualität, von Anbetung – nicht an einen Gott – aber es spricht auch von Ängsten, Misstrauen, Hohn des Geliebten, seiner Dunkelheit, dem sie ihr Licht entgegensetzen wolle, wie sie in einen Brief an ihren Geliebten schreibt. Mit dunklen Gedanken, Todeswünschen, Depressionen, hatten indes beide zu kämpfen. So ist die Liebe von Christine Lavant und Werner Berg eine „leidtragende Liebe“. Aber auch die „Herrlichkeit“ der Seele des Geliebten wird in dem Gedicht beschworen und die Taten seiner Hände: Tageswerk und Nachtwerk; das Vorlegen eines Buches – aber auch die Taten seiner Kunst: „Bildnisse der Erde und all ihre Kreaturen“, „auf einmal von allen Kräften durchleuchtet“. Denn der Künstler – wie Gott – erschafft Welten, durch seine Bildnisse.
Das wundervolle Bild für das Geschlecht, dessen Freuden sie erst durch Werner Berg erfährt – „der Baum des Lebens in seinen Lenden“ - wird immer wieder auch in den Briefen der Christine Lavant an ihren Liebhaber beschworen (am 19. August 1951: „(…) und komme jede Nacht zu Dir und streichle dein Bäumlein“) (oder am 7. Juli 1951 usw.). „Ich weiß nur das eine, dass wir wieder zusammen und ineinander kommen und vergehen müssen“ (am 24. April 1951). Geliebt Werden bedeutet für sie: „Ich werde mich in dich hineinbetten und in Dir schlafen und spielen und manchmal auch singen, ein Kind, ein endlich von seinem Verstoßen – sein erlöstes Kind“ (am 21. Dezember 1950). Das von der Kindheit erlöste Kind: Am 22. Januar 1951 schreibt Christine Lavant, fassungslos: „Du hast mich ja in allen Un- und- Miß-Gestalten an dein Herz genommen dessen erster Schlag alle Verfluchung zerbrach und nun bin ich groß und schön bin eine Geliebte – hörst Du? – eine Geliebte!!!“ „Ich habe noch keinen Mann erkannt“ (am 18. April 1951). Mehrere Gefährdungen drohten den Liebenden und beeinträchtigen die Intimität: Beide sind „depressiv und suizidgefährdet“, schreibt Peter Kümmel; der Ehemann Christine Lavants, der sich in einen „Satan“ verwandelt, ein „verbitterter Greis“: Er stiehlt die Briefe Werner Bergs, will ihn zum Duell fordern, droht, Christine in eine Heilanstalt zu bringen oder Anzeige zu erstatten wegen Ehebruch. Das war damals offenbar möglich. Dann ist da noch das ewige schlechte Gewissen gegenüber Werner Bergs Frau Mauki (auch wenn sie im April 1951 nobel schreibt: „Du gehörst zu Werner und deshalb gehörst Du auch zu uns. Und ich bitte Dich, nimm diesen Satz endlich als Gewähr für meinen guten Willen.“).
Auch die Gefahr einer Schwangerschaft war immer gegeben, auch wenn Christine Lavant von einem Kind ihres Geliebten träumt (z. B. im Brief vom 28. Juli 1952). Aber sie schreibt auch in zwei Briefen, dass mit ihr „alles in Ordnung“ wäre, eine zarte Anspielung, dass die Menstruation eingesetzt hatte. Dann kommt es im Spätherbst 1951 trotz Vorsichtsmaßnahmen zu einer Schwangerschaft – und Werner Berg fällt aus allen Wolken. Aus Gründen der „Gefahr für Leib und Leben“ (und auch weil aufgrund der hohen Röntgenstrahlenbelastung eine Missbildung des Kindes befürchtet wird) wird die Schwangerschaft am 4. November im Landeskrankenhaus Klagenfurt taktvoll beendet – „wegen der außerehelichen Schwangerschaft“, schreibt Harald Scheicher (er ist Enkel Werner Bergs, selbst Maler, Arzt und Kurator des Werner Berg Museums in Bleiburg/Pliberg) in seinem Nachwort zum Briefwechsel der Liebenden, „und der anhaltenden Drohungen Habernigs ist es auch nicht verwunderlich, dass über die Vorfälle Stillschweigen bewahrt wurde.“ Werner Berg konnte seiner Geliebten nicht beistehen; eine schwere Erkrankung seiner Tochter Hildegard verhinderte, dass er Christine schrieb. Er hatte zudem erkannt, was ein von Lavant im Innersten ersehntes, gemeinsames Kind (im 18. April 1951 schreibt Lavant von der „zarten Rücksichtnahme“, die den Liebhaber gezwungen habe, „abzubrechen vom Wohltun und Wohlempfinden“. Und sie gesteht, dass sie für ihn „empört und beleidigt“ sei, „jedes Mal wenn Dein Samen diese liebe herrliche Kraft Gottes durch meine Schuld vergeudet werden muß wie Abfall“) „für sein Familienleben und seine gesamte Existenz bedeutet hätte und dass das wohl von ihm erträumte Zusammenleben mit Mauki, den Kindern und ‚Christl‘ in der Realität nie möglich gewesen wäre. Allein die rechtlichen Rahmenbedingungen hätten ihn als Ehebrecher einer Strafverfolgung ausgesetzt. Aber auch die Verantwortung seinen Kindern gegenüber, die alle aufs Äußerste in die Arbeit auf dem Hof eingespannt waren, zwang ihn wohl zur Einsicht. Werner Berg brauchte sie als Arbeitskräfte und konnte und wollte ihre notwendige Loslösung vom Hof nicht tolerieren.“ Dies zeigt das Beispiel der von ihm missbilligten Heirat seiner ältesten Tochter Ursula mit Heimo Kuchlings im Jahre 1951.
Herausgerissen aus dem Traum eines harmonischen Zusammenlebens mit Christine Lavant auf der eine Seite und der Ehe mit Mauki auf der anderen, ersehnte Berg jedoch weiterhin eine sich gegenseitig bereichernde Künstler/INverbindung – dies aber konnte die Dichterin, in ihrem Verlangen nach Liebe und Sexualität, das durch ihn geweckt wurde, nur als „laues Abwaschwasser“ einer zuvor doch so erfüllten Beziehung verstehen. „Gleichzeitig verwand sie den Verlust ihres Kindes wohl nie und der Schmerz darüber setzte mit der Zeit immer stärker ein.“ Die Dichterin hatte eine in all ihren Möglichkeiten (aber auch Grenzen) gelebte Liebe Monate hindurch intensiv erfahren, hatte Werner Berg zu ihrem „Gott und Herrn“ ernannt. Die abgebrochene Schwangerschaft und Werner Bergs kühler Rückzug, gerade als sie auf seine Unterstützung angewiesen war, zwang sie in Briefen zur Resignation; aber sie war auch nicht gewillt, auf einmal erlebte Erfüllung zu verzichten und drohte wiederholt mit Selbstmord, sie lehnt sich auf „gegen ein Schicksal, das ihr alles genommen hatte“, schreibt Scheicher.
Zwischen April 1953 und Ende Oktober 1954 kam es zu keinem Zusammentreffen der Liebenden. Der Verzicht auf weitere Liebesbegegnungen mit Werner Berg fiel der Dichterin schwer, hatte sie doch diese Liebe wie eine Art Erlösung von einem Bann erlebt, der sie mehr versehrt hatte, als sie sich einzugestehen vermochte: Sie hatte sich damit abgefunden, zu sterben, ohne je geliebt zu haben und geliebt worden zu sein: „Werner ich danke Dir tausendmal für das Stückchen Himmel das mir Deine Hände, Dein Mund gaben“, schreibt sie ihm am 4. Januar 1951. Und: „Ich bin ein Niemandsland gewesen ich habe mich jetzt an einen Herrn gegeben (…).“ Sie hatte sich, wohl erstmals in ihrem Leben, als schön empfunden, seit der Geliebte sie berührt hatte. Zuvor war ihr Lebenswissen gewesen: Sie sei hässlich, schwach, krank. Sie schreibt Werner Berg: „Haben wir nicht Glück? Kann die Erde solches Glück überhaupt aushalten ohne Himmel zu werden. Hölle ist sie so lange Knabe und Mädchen einsam brennen. Aber wir schlagen zu einer Flamme zusammen bald bald.“ Peter Kümmel schreibt, dass Christine Lavant in einen „Loyalitätskonflikt zwischen zwei Instanzen, geraten sei, denen sie zu Wahrhaftigkeit verpflichtet sei – „Gott und Werner Berg“. Ich muss ihm widersprechen: Christine Lavant nennt den Geliebten ihren „Gott“, ihren „Herrn“. Der eigentliche Loyalitätskonflikt besteht für Lavant zwischen dem Geliebten und seiner Ehefrau: Die Dichterin will auch Mauki Berg, lieben, d. h. von ihr geliebt werden (als würde das den Konflikt lösen), aus Scham: Sie besucht die Familie auf dem Rutarhof, was bei allen Beteiligten zu schweren seelischen Konflikten führt. An Mauki schreibt die Dichterin am 14. März 1951: „(…) Mauki, Liebe, es ist jetzt alles so trüb zwischen uns worden. Aber so darf es nicht bleiben, bitte bitte! – Bisher warst Du der einzige sichere heile und klare Punkt in dieser verworrenen Situation u. es tut immer wohl zu denken dass wir Dich haben. Freilich jetzt hinterher sehe ich ein, dass darin eine anmaßende Zumutung lag. Aber dennoch: ich kann Dein Dasein nicht so schnell umdenken in eine – etwa bedrohende Stellung – unterschieben.
Meine Liebe zu Dir ist schmerzlicher aber noch inniger geworden. Und: – wenn ich nicht mehr zu Euch kommen kann so liegt das nicht an Dir. –
Weißt Du dass es mir fast kalt über den Rücken läuft wenn ich jetzt daran denk wie selbstverständlich ich zu Euch kam, die ich Deine Güte Deine Selbstaufgabe hinnahm. Verzeih mir Mauki ich bitte bitte, verzeih mir! (…)
Verzeih mir Mauki! Bitte bitte“.
Am selben Tag bekennt sie abermals – und nicht das letzte Mal – ihre Liebe zu Werner Berg; solange er sie liebt, „habe ich noch eine Art Obdach“. Zwei Tage darauf schreibt er: „Liebste, kennst Du mich noch, hörst mich noch, magst mich noch?“ Der Knecht/Wirtschafter am Rutarhof soll Bergs Brief nach Klagenfurt zur Post mitnehmen. „Eine rechte Wut habe ich auf dieses Stück Papier, wenn ich dran denke, dass es morgen schon in den schönsten, zartesten Händen sein darf, nach denen ich so wahnsinnige Sehnsucht habe. Morgen muß ich nach Klgft. (= Klagenfurt; die Verf. in Sparre), und ich werde dieses Nest nur noch mehr hassen, wenn es nicht mein Nestlein mich wieder finden lässt. (…).“ Dann klagt er über eine Grippeerkrankung“; zugleich ist er „auch ‚seelisch‘ auf den Hund geraten, es war von Minute zu Minute nichts mehr gewiß hier, nur Qual und stumme Zermürbung, und nicht selten erschien mir die ganze Existenz hier, auf die ich nicht wenig gesetzt, zerbrochen. Nein, so klar und mit einem Schlag morgenrötlich war es dann doch nicht zwischen Mauki und mir, die Situation ist so schwer und innerlich beladen und mit Worten kaum klärbar, aber nun, Christl, darfst Du getrost glauben, dass das Ärgste überstanden und eine neue Festigkeit im Werden ist. An uns freilich wird es liegen, Mauki, die es nach wie vor gut meint, an keine Bedrohung des Unsrigen denkt und von dessen Unlösbarkeit überzeugt ist, recht zu begreifen und ihr innig und im Innersten beizustehn. Werden wir dies vermögen? So unmöglich dies alles nach der Logik ist, bezweifle ich doch nicht, dass alles gut werden kann, sofern wir das Große groß bestehn, dass Schuld und Fluch zunichte werden, sofern wir nur nicht wanken und auch um einen Bruchteil nicht das Ganze verfehlen und das Höchste und Letzte des Liebens vollbringen. Dieses eine Mal wäre vielleicht noch mit großem Ernst und zögerndem Bedacht zu prüfen, jeder Deiner Entscheidungen will ich mich beugen. Mir selbst bleibt keine Entscheidung mehr, da in mir wachsend, wartend, wühlend immer nur eines ist: Liebe. Das wird sich nie mehr ändern, soll Dir aber auch nie nur mindeste Last bedeuten. Verkenne auch nicht alles Schwere und dauernd sich mehr Komplizierende der äußeren Situation, - aber im Grunde mag das doch nicht gar soviel wiegen, wenn das andere ausgewogen ist. Wenn – Schluß mit der wichtigen Wiegerei! – mein Vögelchen – mein Vögelchen bleibt.“ Am 24. April schreibt sie an ihren Geliebten: „Ich weiß nur das eine bestimmt, dass wir wieder zusammen und ineinander kommen und vergehen müssen. Nicht bloß in der Vorstellung sondern so dass eines die Wärme des anderen spürt Haut zu Haut und Härlein zu Härlein. Ich hab Dich noch nicht überall gekost, ich weiß an Dir noch viele Plätzlein die darauf warten. Ich werde diesmal nicht von Dir lassen bevor Du nicht von meinen Händen und Lippen so überliebkost bist, dass es wie ein dichtes Gewand über Dir liegt. Und kein Lindenblatt darf zwischen Dich und mich fallen.“
Sie erlebte diese Liebesbeziehung als eines der raren Wunder ihres Lebens, denn sie war überzeugt von der eigenen Wertlosigkeit und wollte doch lieben und geliebt werden: „In mir warten immerfort ganze Lawinen von Vertrauen und Zuneigung um sich auf irgendein bereites Opfer zu stürzen.“ Irgendwann konnte und wollte und konnte Werner Berg dieses Opfer nicht mehr sein. Er stand vor der Wahl – Rutarhof, Arbeit, Pflicht, Familie, die Treue und Dankbarkeit gegenüber der langjährigen Gefährtin und Zeugin seiner Kämpfe um Anerkennung als Künstler, Mauki – oder die Geliebte. Wir wissen, dass er an dieser Alternative mehr als einmal seelisch zerbrach: Es gab bereits 1952 einen eher halbherzigen Selbstmordversuch, doch – auch angesichts der ihm durch Intrigen vorenthaltenen Ehrungen (er erfuhr, so Harald Scheicher in seinem Nachwort, „ernsthafte Anfeindungen aus maßgeblichen Wiener Künstlerkreisen“; auch die bereits vorgesehene Verleihung des Österreichischen Staatspreises wurde im letzten Moment hintertrieben) – geriet er Ende Januar 1955 ein Gefühl der Ausweglosigkeit und versuchte sich mit einer massiven Überdosis Schlaftabletten umzubringen. Er konnte mit großem Glück und unter dramatischen Umständen gerettet werden. „Da eine Intubation des schwer Bewusstlosen während des Transportes nicht möglich war, mussten die herbeigeeilten Rettungskräfte ihm die Zunge an der Wange annähen, um seinen Tod durch Aspiration abzuwenden. Nach mühsamem Transport mit dem Pferdewagen bergab und mit den Rettungsauto endlich im Krankenhaus eingetroffen, kam es wegen dieser Maßnahmen zu einer schweren Lungenentzündung und durch die damals noch verwendeten Mehrfachinstrumente zu einer infektiösen Hepatitis. Am Ende seines mehrmonatigen Spitalaufenthalts empfand Werner Berg sein Überleben als ein Auferstehen zu neuem Leben und verarbeitete die Erfahrungen in der Serie der ‚Krankenbilder‘, die nach überstandener Krise wie ein Pedant zur Porträtserie Christine Lavants zu sehen sind.“ Mauki Berg verlangte von Lavant, jeden brieflichen Kontakt mit ihrem Mann abzubrechen. Auch Werner Berg hielt sich an dieses Kontaktverbot.
Lavant hatte noch am 25. Januar an Werner Berg geschrieben. Der nächste erhaltene Brief ist an Mauki Berg ist vom 4. März. Am 12. März schreibt Lavant: „(…) Ich habe gedacht, dass es Werner besser geht als wie Du schreibst. Weiß nicht warum, aber das hab ich gedacht. Konfliktlos wird er wohl nie werden und ist es wohl nie gewesen. Auch vor mir nicht. Als ich ihn das erstemal sah war er schon geschüttelt von Zorn und Elend. Und als Du mich damals batest zu kommen und mich damit in ein ganz neues und so einsam machendes Schicksal hineingebracht hast da war er ja auch nicht glücklich oder ausgeglichen sonst hättest Du das nicht getan. Liebe Mauki, – ich meine wirklich Liebe Mauki nimm das nicht als Vorwurf auf, es ist ganz was anderes ich möchte Dich wieder klar anschaun können und auch dass Du mich wieder anschaust mit deinen guten Augen. Ich hab Werner nie unglücklicher machen wollen nie von Dir wegbringen wollen weil Du ja sein ganzes Daheim und seine Stärke bist. Für mich war er mein Daheim und seine Briefe die Wärme von der ich gelebt hab.“ Sie weigert sich, „die Schuld an dem dass Werner das Schreckliche hat tun wollen“ auf sich zu nehmen. Sie schreibt auch, ohne die Überforderung Maukis mitzudenken: „Und immer hab ich gehofft dass jemand von Euch mich erlösen wird mit einem guten Wort, der Werner oder Du (…), dass Ihr einmal daran denkt wie es wohl der Christl geht, dass Eure Wärme meine Verhärtung aufgehalten hätt. Ihr seid auch in Verzweiflung und Ängsten alle miteinander aber ihr seid nicht so entsetzlich allein. Ich drück manchmal in der Nacht (…) ein Bündel Fetzen zu mir und denk: mein Kind mein Kind. Das hast Du nie tun müssen. Und im gleichen Raum schnarcht einer der gleichgültig zuschaut wie ich nicht essen und nicht schlafen kann und der immer noch schweinische Notizen über mich und Werner macht.“
Erst im April nimmt Lavant wieder schriftlichen Kontakt zu Werner Berg auf. Erst wieder zehn Jahre später, im Oktober 1965, kommt es zu kurzen Briefen ihrerseits. Die Verbindung versickert. Werner Berg antwortet kaum mehr (ein oder zwei Briefe gingen offenbar verloren; wir können nur aus Lavants Antworten schließen, dass Berg ihr geschrieben hatte). Werner Berg, der Konventionen ablehnte, war letztlich Gefangener der Gegebenheiten (aber auch der Wahl) seines Lebens. Dass diese mit der Liebe zu Christine Lavant nicht vereinbar waren, mag zum Versuch des „Überstehens“ seiner Niederlagen (auch als Künstler) in jahrelangem Alkoholkonsum bis weit in die 1960er Jahre geführt haben, bevor er sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt „zu völliger Abstinenz entschied. Die Liebe zu Christine Lavant war abgekühlt, die Bewunderung für die große Dichterin nie.“
Christine Lavant hat bis zuletzt ihrer Sehnsucht nach der Liebe ihres Lebens Ausdruck verliehen und konnte ihren Verlust nicht verwinden. Fünf Jahre einer Leidenschaft, mit all ihrem Auf und Ab, ihrer Erfüllung, aber auch den Abgründen, dem Scheitern, umfasst der dickleibige Briefband zwischen der Dichterin und dem Künstler. „Und mein Herz der arme wilde Vogel flieht alle Nacht um Euer Haus“, schreibt sie an Berg. Im Januar 1970 – sie ist „im Krankenheim“ (wohl ein Pflegeheim) dankt Lavant ihm für seinen Besuch.1973 stirbt sie in einem Pflegeheim. Sie wird nur 57 Jahre alt. Werner Berg stirbt 1981 im Alter von 77 Jahren. Die Todesursache ist unklar; möglicherweise hat er sich umgebracht.
Von allen schöpferischen Menschen – ob in der Dichtung – in der Musik – in den bildenden Künsten – kann man sagen: Werk und Mensch sind miteinander durch einen Abgrund vereint. Dieses Paradoxon ist bewusst gewählt. Bei Christine Lavant – und das macht den einzigartigen Rang ihres Werkes aus – ist diese Distanz – oder Diskrepanz – äußerst gering. Sie ist wahrhaftig – bis zur Selbstentblößung – als Mensch – als Frau – als Dichterin. Es zerreißt das Herz. Für mich bleibt die Frage, angesichts der Lektüre des Intimsten, des Privatesten zwischen zwei Menschen (auch angesichts des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch; beide blieben nach dem Scheitern ihrer Liebesbeziehung seelisch beschädigt zurück): Richten wir uns hier nicht wohnlich ein in den Notschreien zweier Menschen? Und: Kommt solche Veröffentlichung dieses Briefwechsels nicht einem allseits bekannten und von den Medien immer wieder verstärkten und bestätigten Voyeurismus entgegen? Ein Unbehagen bleibt. Oder sind wir keine Voyeur/INNEN eines Schicksals, sondern Zeug/INNEN eines Wunders geworden, des Wunders, wie es zwei miteinander auszuhalten versuchten (und doch an der Liebe scheiterten, wie vielleicht, letztlich, wir alle) und wie sie es in Bilder, in Worte, in Dichtung fassten; das allein rechtfertigt Publikation und Lektüre dieser Briefwechsel, und: auch diese Briefe gehören zum Werk Christine Lavants, erhellen manche seiner Aspekte, die wir vielleicht vorher nicht genau genug gesehen und erkannt hatten, denn Gedichte und Briefe bilden bei Lavant eine Einheit: Es ist derselbe existentielle Ernst.
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Harald Scheicher/Brigitte Strasser (Hgg.), |
Christine Lavant, |