Linda Nochlin
Warum gab es keine großen Künstlerinnen? Essays Band 1. 1971-1999

Das Rupfen von Federn in den patriarchalischen Taubenschlägen: Linda Nochlins provokative feministische Essays und Untersuchungen in einer zweibändigen Ausgabe des marsyas Verlags

Künstler/INNEN bestimmen die moralische Qualität einer Gesellschaft. Dafür benötigen sie das Interesse einer möglichst breiten Öffentlichkeit – ein komplexer Vorgang gegenseitiger Durchdringung, der Zeit braucht. Unsere Gesellschaft aber will sich Kunst nur „leisten“, wenn unmittelbarer Erfolg sichtbar wird. Themen, Darstellungsarten werden zu einem „Hype“, dem, sobald das Publikum „gesättigt“ ist, ein neuer folgt usw. Das Kulturkarussell dreht sich also immer schneller; Verlage, Galeristen, Kulturinstitute und nicht zuletzt die Medien werden zu ihren eigenen Antreibern. Kunst wird „Unterhaltung“ – was sie aber gerade nicht ist.

Was dabei gern übersehen wird: Was macht Kunst eigentlich zu Kunst? Was sind die Kategorien zu ihrer Beurteilung? Viele Beurteilungskategorien haben nichts mit dem Werk selbst zu tun – es geht um „Namen“ – und es geht immer noch auch um die Frage nach dem Geschlecht des Künstlers. Hier geht es wirklich um eine „doppelte Buchführung“, wie die feministische Historikerin und Malerin Gisela Breitling beobachtete.

1978 sprach Gisela Breitling (1939-2018) in einem EMMA-Interview über die Situation von Künstlerinnen, über ihre Werkidee, und warum es so schwer ist, trotz männlichem Suprematie- und Allmachtsbestreben ein Werk zu leisten. Bedrückend hierbei: der Mangel an weiblichen Vorbildern (einer weiblichen Kunstgeschichte also), d. h. großen Künstlerinnen. „Warum gibt es keinen weiblichen Leonardo, keinen weiblichen Michelangelo?“: wie die Malerin diese Tatsache gegen sich selber richtet – als würde mangels weiblicher Vorbilder das eigene Werk fraglich und unbedeutend. „Die Kunst der Frauen bot keine Orientierungsposition.“ Frauen – das Geschlecht ohne eigene Geschichte? Es ist komplizierter – und es ist das große Verdienst der Feministinnen, dass wir eine Geschichte haben, auf die wir uns berufen können: eine Identität.

Die Anfänge waren schwer und qualvoll, oft voller Selbstzweifel, bis hin zum Zweifel an der eigenen Aufgabe, am eigenen Werk und Wert. In ihrer erstmals 1980 veröffentlichten Monographie „Die Spur des Schiffes in den Wellen“ (2. Auflage 1986) schreibt Breitling, dass sie ab ihrem 14. Lebensjahr eine „Doppelexistenz“ geführt habe: „Meine tägliche Erfahrung lehrte mich endgültig, dass alles, was interessant, lustig und wichtig war, nur von Wesen männlichen Geschlechts erlebt und getan werden durfte, was dagegen langweilig, dumm, albern oder mühselige Pflicht war, den Wesen weiblichen Geschlechts zukam.“ Breitling spricht von der „exemplarischen Existenz“ der Künstler, die sich alle Freiheiten nehmen durften, auch erotische.

Bald durchschaute sie die Konformität und Verlogenheit, die diese „Künstlerexistenz“ bedeutete: „Hatten die angehenden Künstler – mit Apanagen ebenso versehen wie mit Bildung, Anstand und Freunden im Ausland – die notwendigen Reisen und Besuche gemacht und daneben eine nicht näher erläuterte Erfahrung, die Thomas Mann im Tonio Kröger diskret mit ‚Ausschweifung‘ bezeichnet, hatten sie mit väterlichen Wechseln ihre Spielschulden beglichen, ihre Duelle und obligaten Kavaliersdelikte begangen, so kehrten sie, zum Manne und Künstler gereift, mit dem unerlässlichen Tropfen Bitterkeit und Wehmut in der Seele zurück in ihre Heimatstädte, wo noch immer dieselben Mädchen an denselben Fenstern saßen und langsam alt wurden – ohne dass Wehmut und Bitterkeit sie anmutiger, reifer oder gar zur Künstlerin gemacht hätten.“

Denn für die Künstlerin – bzw. eine Frau mit dem Ehrgeiz, Künstlerin zu werden – gilt immer noch, was 1930 Virginia Woolf im Hinblick auf eine erfundene Schwester Shakespeares erklärt hatte: sie hätte keine Chance gehabt, zu einer großen Dichterin zu reifen (heute wissen wir, dass dies tatsächlich – nicht fiktiv – z. B. für Mozarts Schwester galt: sie durfte ihr Genie ab Beginn der Pubertät nicht weiterentwickeln, sondern wurde verheiratet).

Gisela Breitling nannte die Misere – und die Folgen - des zerstörten weiblichen Erbes beim Namen: „Kein weibliches Vorbild bot mir eine Perspektive für mein künftiges Leben. Die Kunst gehörte den Männern; ihre Gedichte und Bilder bereiteten mir nurmehr einen formalen Genuß, es waren lediglich musikalisches oder artistisches Vergnügen, da ich mich weigerte, mich mit ihren Inhalten zu beschäftigen. (…)
Dies war die einfachste und unausbleibliche Antwort auf die Vertreibung aus dem Paradies meiner Utopie – dem Wunsch, über mich hinauszureichen.
Es war eine unbewusste Rache.
Sie tötete nicht nur die ‚Welt‘, die von mir hätte ausgehen können, die ich selbst hätte sein können – sie vernichtete auch die allgemeine Verbindlichkeit der Kunst, die mir begegnete, entzog ihr die Gültigkeit, ‚… weil eben es den Weibern… an aller Objektivität des Geistes fehlt… sie stecken überall im Subjektiven‘,“ zitiert Breitling Schopenhauer. „Die Reduzierung meiner Wahrnehmung, die nicht plastisch, sondern nur noch zweidimensional stattfand, war ein unbewusster Akt der Selbstrettung. Mein Ich, das ganz bei sich selbst blieb, verarbeitete nichts mehr, sondern repetierte die Welt und die Produkte der anderen, verwandelte sich nichts an.“ An anderer Stelle spricht Breitling vom Gefühl, „als Frau nur aus zweiter Hand zu leben, unter Legitimitätszwängen und von Mannes Gnaden, das Gefühl entwürdigender Ungerechtigkeit“ erkannte und bedrückte sie, drohte Breitlings unternehmenden Geist zu lähmen. Sie begriff: „Frauen waren benachteiligt.“

Es geht also keineswegs um „mangelndes Genie“, das man(n) Frauen gern unterstellte – der „Wahnsinn hat Methode“: Es geht um den Ausschluss der Frauen aus dem Kosmos der Erschaffung von Sinn, von Welt. So aber ist jede Künstlerin aufs neue dazu gezwungen, Vorbilder auszugraben, ihre Identität zu stärken - das Rad jede Generation neu zu erfinden: zu beweisen, dass Frauen Unrecht geschieht; dass dies immer so war; dass es Zeit wird, an der falschen Welt etwas zu ändern, sie vom Kopf auf reale Füße zu stellen.

In der EMMA vom November 1979 fragt Ingrid Strobl provokativ „Kein weiblicher Rembrandt in Sicht?“ und referiert einige Bücher aus Männerhand, z. B. „Die Frau als Künstlerin“ aus dem Jahre 1928 (ich ergänze: Der Autor war Hans Híldebrandt). Strobl zitiert daraus: „Kein Einsichtiger wird von diesem Buche die Entdeckung eines bislang verborgenen Leonardo, Michelangelo erwarten. Nur in seltensten Fällen drang die Frau, gleich der Heiligen Hildegard von Bingen (…) in jene Regionen vor, in der die schöpferischen Urkräfte wirken. Das Allerhöchste aber hat eine Frau als gestaltende Künstlerin noch nie erstrebt, geschweige denn je erreicht. Und es fragt sich, ob sie es je erreichen wird.“ Und Strobl nennt das Buch „ein dankbares Werk in zweierlei Hinsicht: Erstens konnte man sich informieren über die Vielfalt bildender Künstlerinnen und Informationen für eigene weiterreichende Studien beziehen. Zweitens hatte man ein glänzendes Beispiel männlicher Vorurteile und Ignoranz zur Hand (…).“

Im September 1979 kam ein „Remake“ auf den Markt, das Strobl eine Energie- und Geldverschwendung nennt. Es geht um die Monographie „Künstlerinnen von der Antike bis zur Gegenwart“ von Jörg Kriechbaum und Rein A. Zondergeld im honorigen DuMont-Verlag. „Nun, vielleicht war keine Frau zur Hand?“, lästert Strobl angesichts der geballten Männer-Autorschaft und -ignoranz. Die beiden Autoren begründen ihr Interesse an der Thematik so: Es „wurde in erster Linie durch seinen Charakter eines Randphänomens der Kunst bedingt.“ Ach so.

„Aufgeklärt über diese interessante Motivation erfährt die Leserin des weiteren, dass eigentlich gar kein Anlass für ein Künstlerinnen-Lexikon besteht: Wurde doch dem ‚weiblichen Kunstschaffen‘ in der Rezeption bereits übergebührliche Aufmerksamkeit geschenkt (‚die gedankliche Intensität der wissenschaftlichen Zuwendung steht in keinem Verhältnis zur Qualität der Werke der abgehandelten Künstlerinnen‘).“ Dazu Strobl: „Die Sicht der Autoren ist wohl so getrübt, wie ihre kunsthistorischen Kenntnisse. Für ein Lexikon über Frauen sind einem angesehenen Kunstverlag offenbar Autoren gut genug, die mit Trivialbegriffen wie ‚die gotische Enge des ausgehenden Mittelalters‘ arbeiten.
Bei solcher wissenschaftlichen Schludrigkeit verwundert auch die feuilletonistische Kategorisierung der Künstlerinnen nicht: Julia Margaret Cameron, die Pionierin der Kunstfotografie, und ihre englischen Zeitgenossinnen werden da entlarvt als ‚Damen der Oberschicht‘, deren ‚zeitvertreibende Fotografien‘ mit ihrer ‚dekadenten Bilderwelt‘ natürlich ‚keine Tradition weiblichen fotografischen Schaffens‘ begründen konnten. Und bei den Illustrationen der Hildegard von Bingen ‚denkt man intuitiv an den naiven Maler Morris Hirshfield‘.
Und so stehen die Herren Autoren den Damen Künstlerinnen stets hilfreich zur Seite, lassen sie nie allein: Nicht im theoretischen Teil, in dem sie jede Äußerung einer Künstlerin oder Kunsthistorikerin sorgsam durch ein klärendes Adjektiv begleiten: So sind z. B. Valie Exports Bemerkungen ‚hitzig‘, Marianne Wex‘ ‚Vorwürfe‘ zu schlecht belegt und die Theorien einiger Amerikanerinnen ‚vaginal determiniert‘ (…).“
Ingrid Strobl resümiert: „Dieses Lexikon wäre es nicht wert, so ausführlich besprochen zu werden, wäre es nicht das einzige in deutscher Sprache und daher in der Zukunft eine mögliche Ausrede für alle Verlage, das Thema fallenzulassen. Gibt es doch nun schon zwei Bücher dazu, die sich noch dazu so herrlich einig sind. Und wie um seinen Vorläufer von 1928 die Honneurs zu erweisen, steigert sich das DuMont-Künstlerinnen-Lexikon in seinen Schlussfolgerungen zu dem bemerkenswerten Satz: ‚Nach einer über hundertjährigen Inkubationszeit ist noch immer kein weiblicher Michelangelo oder Rembrandt in Sicht‘. Ein gescheiter Kritiker übrigens auch nicht.“

Erfreulicherweise hat sich seit den trüben 1970ern doch etliches getan; auch wenn die von Ingrid Strobl vorgeführten „Herren Kunstrichter“ keineswegs das verdiente Schattendasein führen; der fehlende weibliche Michelangelo, Rembrandt oder Leonardo wird uns gelegentlich immer noch unter die Nase gerieben.

Mit dieser Frage hat sich auch Linda Nochlin (die bereits 1976, zusammen mit Ann Sutherland Harris, eine vielbeachtete Ausstellung „Women Artists: 1550-1950“ initiierte) befasst – und kam zu einem anderen Ergebnis: Denn Genie ist nichts weiter als gefördertes und in seiner Eigentümlichkeit gefordertes Talent. Genie bei einer Frau war aber immer wieder suspekt, hatte etwas Monströses. Also schweigt man(n) es tot. Dies schlägt sich auch im Ausstellungs(un)wesen nieder. Ein Plakat einer Protestgruppe, der Guerrilla Girls (ein Wortspiel mit Guerilla und Gorilla; die Aktivistinnen treten mit Gorillamasken auf) erklärt: „Do Women have to be naked to get into the Met Museum?“ Und: „Less than 5 % of the artists in the Modern Art Sections are women, but 85 % of the nudes are female.”
Mit diesem Plakat erregten die Guerrilla Girls 1985 erstmals Aufsehen. Frauen wollten nicht länger Objekt und Muse sein, sondern selber als Künstlerinnen ernst genommen werden. Da hilft nur eins – und das geschah z. B.1987 in Berlin: Ein eigenes Museum für die Kunst der Frauen („Das verborgene Museum. Dokumentation der Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen“). Es geht hier keineswegs um ein „Frauenghetto“ (warum eigentlich spricht niemand von einem „Männerghetto“? Weil Männer als Kunstrichter immer noch die Definitionsmacht haben?), sondern um eine überfällige Korrektur althergebrachter Kategorien von Kunst.

Dass es auch anders geht, bewiesen Ausstellungen wie z. B. die über vier bedeutende Impressionistinnen im Jahre 2008 oder die „Malweiber von Paris. Deutsche Künstlerinnen im Aufbruch“ im Jahre 2015 (Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker oder Clara Rilke-Westhoff sind die bekanntesten); und bereits 1988 publizierte Marina Sauer eine Biographie und Werkverzeichnis über Clara Rilke-Westhoff, um die Malerin und Bildhauerin aus dem Schatten des bekannten Dichters herauszuholen. Und warum eigentlich ist Maria Slavona immer noch kein festumrissener Begriff der Kunstgeschichte?

Linda Nochlin, eine in den USA bekannte und einflussreiche feministische Kunsthistorikerin, starb 2017 – Anlass für ihre Freundin Maura Reilly, Nochlins Essays, von 1971 an, in zwei Bänden herauszugeben (der erste Band enthält Nochlins Arbeiten von 1971 bis 1999; der zweite Band wird Essays und Monographien von 2000 bis 2015 enthalten, über Jenny Saville, Mary Frank, Louise Bourgeois, Miwa Yanagi und andere). Die Essays und Monographien zeigen wie in einem Brennglas, anhand der Themen und der Art und Weise des Zugangs, die Entwicklung feministischer Kunstforschung und -kritik; von der zornigen und zugleich ratlosen Provokation aus dem Jahre 1971, „Warum gab es keine großen Künstlerinnen?“ bis hin zu einem Essay von 1999 über eine ungewöhnliche Malerin mit einem speziellen Zugang zu Porträts und männlichen Akten, Sylvia Sleigh.

Kommen wir also nochmals zu Gisela Breitlings und Linda Nochlins Frage und ihre Antworten. Wir haben schon gesehen, wie schwer der Weg Breitlings zu einer eigenen Formsprache, zu einer eigenen Werkidee war; wie sie diesen Weg in mehreren Publikationen dokumentierte (1990 veröffentlicht sie „Der verborgene Eros. Weiblichkeit und Männlichkeit im Zerrspiegel der Künste“; 1986 schrieb sie für den Katalog Gegenlicht – 60 Jahre GESDOK über den immer noch bestehenden Unterschied in der Rezeption der Werke von Künstlern und Künstlerinnen einen Essay „Die ungeschriebene Geschichte“).
Gisela Breitling war zuerst eine wichtige Vertreterin des Phantastischen Realismus. Seit 1960 setzte sie sich für die Anerkennung von Frauen in der Kunst ein. Dies und ihre feministischen Texte entsprangen einer frühen Irritation, die sich zum feministischen Impuls eines ganzen Lebenswerks auswuchs: Gab es denn in der ganzen Kunstgeschichte keine Künstlerinnen? Als Breitling Anfang der 1960er Jahre studierte, sah es ganz so aus. In den Museen fand sich keine einzige bedeutende Künstlerin, auch in der Kunstliteratur fehlten sie. Das forderte Breitlings Widerspruch heraus. Sie forschte, fand Gleichgesinnte und stellte für ihr Engagement zeitweise ihre Malerei zurück. Das feministische Ausstellungsprojekt „Künstlerinnen International 1877-1977“ war ein Anfang.

Wir verdanken den US-amerikanischen Feministinnen viel; mit der Verspätung eines knappen Jahrzehnts gab es auch im deutschen Sprachraum entsprechende Forschungsarbeit – und Entdeckungen. In einem Interview mit Maura Reilly berichtet Nochlin, dass es 1970, als sie die Frage wagte, warum „es keine große Künstlerin“ gegeben habe, noch keine „feministische Kunstgeschichte“ existiert hätte. „Wie alle anderen Arten von historischem Diskurs musste sie erschaffen werden. Neues Material musste gesucht, eine theoretische Basis aufgestellt, eine Methodologie schrittweise entwickelt werden.“
Über ihre Ausstellung „Women Artists“ berichtet Nochlin, dass sie mit enormen Hindernissen zu kämpfen hatte; einige Galeristen lachten die Autorin aus. Maura Reilly resümiert in ihrem Interview mit Nochlin: „Die Ausstellung hatte eine beachtliche und unmittelbare Wirkung auf das kunstgeschichtliche Paradigma, gegen das sie sich stellte. Damals wie heute gilt sie als wegweisend in der Geschichte des Feminismus und der Kunst. Der Kunstkritiker John Perrault schrieb 1977 in seiner Besprechung der Ausstellung: ‚Die Geschichte westlicher Kunst wird nie wieder dieselbe sein‘. Nach einer Ausstellung wie dieser, fuhr Perrault fort, kann der Ausschluss von Frauen aus der Kunstgeschichte ‚nie wieder geschehen, denn ihre Forschung hat ergeben, dass es immer schon Künstlerinnen mit herausragenden Fähigkeiten gegeben hat‘. Und Robert Hughes bezeichnete Women Artists in der Zeitschrift Times als ‚eine der bedeutendsten thematischen Ausstellungen der letzten Jahre‘.“

Es ging um „das wichtigste kuratorische Korrektiv der 1970er Jahre im Hinblick auf die Ausblendung von Frauen als zur Kultur Beitragende aus der allgemeinen Geschichtsschreibung – mit dem vorrangigen Ziel der Anerkennung und Rückführung von Künstlerinnen in den traditionellen Kanon der Kunstgeschichte, aus dem sie verloren gegangen oder vergessen oder einfach als unbedeutend ausgeschlossen worden waren, weil sie weiblich waren.“ Die Ausstellung „Women Artists“ war „ein absolutes Novum in der Historie der Ausstellungen.“ Nochlin erklärt zudem, „dass die in Women Artists angewandte Strategie der Entdeckung und Analyse Teil eines größeren Projekts der ‚Rückführung‘ von Feministinnen zu dieser Zeit war – wie vielleicht am besten eine Installation von Judy Chicagos The Dinner Party zeigt, die an 1.038 Frauen aus der Geschichte erinnert. Man könnte auch an Ausstellungen wie Old Mistresses: Women Artists of the Past (Walters Art Gallery, Baltimore 1972) oder Women Artists of America, 1707-1964 (Newark Museum 1965) erwähnen oder die ersten Übersichtstexte von Künstlerinnen dieser Zeit von Eleanor Tufts, Germaine Greer und Elsa Honig Fine. Rückforderung und Wiederentdeckung waren zweifellos wichtige feministische Strategien dieser Zeit.“

Maura Reilly fragt in dem Gespräch mit Nochlin, warum diese, fünf Jahre vor Eröffnung der Ausstellung (d.h. 1971) sich kritisch über Feministinnen geäußert habe, deren erste Reaktion es gewesen wäre, „den Köder zu schlucken, mitsamt Haken, Schnur und Schwimmer, und zu versuchen, die Frage so wie sie gestellt ist zu beantworten, d.h. in der Geschichte Beispiele beachtenswerter oder ungenügend gewürdigter Künstlerinnen auszugraben (wir wissen heute, Jahrzehnte später, dass es sich wirklich so verhält; d. Verf. in Sparre); eher bescheidene Karrieren zu würdigen, sofern sie interessant und produktiv waren; vergessene Blumenmalerinnen ‚wiederzuentdecken‘ oder David-Adeptinnen und für sie zu ‚plädieren‘. Du meintest damals, solche Versuche wären sicher den Aufwand wert (davon ging 1980 auch eine Gisela Breitling aus; d, Verf. in Sparre), ‚hinterfragen jedoch keineswegs die These hinter der Frage ‚Warum gab es keine großen Künstlerinnen?‘ Im Gegenteil, im Versuch, die Frage zu beantworten, verstärken sie stillschweigend deren negative Implikationen‘. Weiter meintest du: ‚Tatsache ist, dass es, soweit wir wissen, keine überragenden Künstlerinnen gegeben hat, obwohl es zahlreiche bemerkenswerte und sehr gute gab, die immer noch ungenügend erforscht oder anerkannt sind (…). Tatsache ist, liebe Schwestern, dass es ebenso wenig weibliche Äquivalente zu Michelangelo oder Rembrandt, Delacroix oder Cézanne, Picasso oder Matisse oder auch, in jüngster Zeit, de Kooning oder Warhol existieren, wie es schwarzafrikanische Äquivalente für sie gibt‘.“ Reilly fragt Nochlin, wie sie mit diesem Widerspruch umgegangen sei.

Festzuhalten sei hier nur, dass Nochlin ihre Aussagen später „modifizierte“. Sie begriff im Verlauf ihrer Forschungen „in Keller(n) und Speicher(n) großer europäischer Museen“, dass es „tatsächlich zahlreiche großartig einfallsreiche, enorm fähige und, vor allem, fraglos bemerkenswerte Künstlerinnen gegeben hat; einige davon waren in ihrer Heimat geschätzt und bewundert worden, auch wenn sie nicht als sogenannte internationale Superstars einzustufen sind.“ Es geht aber vor allem, auch das wurde Nochlin klar, um eine Korrektur des Diskurses über sog. „Hochkunst“.
In der Ausstellung „Women Artists 1550-1950“ ging es „vielmehr darum zu zeigen, was Frauen als Künstlerinnen im Lauf der Zeit trotz der Vorurteile, Marginalisierung und Stereotypisierung geschaffen hatten.“ Es war ein Wunder, ein Mirakel, dass diese Künstlerinnen weiterarbeiteten, trotz des Eiswindes der Ablehnung und Gleichgültigkeit, der ihnen entgegenwehte.

Nochlin weiter: „Wir haben nicht behauptet, ignorierte Michelangelos entdeckt zu haben. Aus einer Vielzahl von gesellschaftlich bedingten Gründen gab es tatsächlich nie ein weibliches Äquivalent zu Michelangelo oder van Eyk oder Poussin. Unser Ziel war nicht zu zeigen, dass Frauen trotz gewaltiger Hindernisse eine ebenso erfolgreiche Kunstgeschichte aufweisen wie Männer, eine Geschichte, die durch männliches Zusammenwirken zum Schweigen gebracht wurde. Ich war vielmehr daran interessiert, was Frauen unter spezifischen historischen Umständen und speziellen sozialen Spielräumen erreicht oder nicht erreicht hatten.“

Heute wissen wir mehr; es ist durchaus bedeutsam, im Blick zu behalten, dass während einer langen Zeit Kunst von Frauen durch männliches Zusammenwirken zum Schweigen gebracht wurde – und immer noch wird; Gisela Breitling befasste sich mit dieser Frage immer wieder, und nicht nur als feministische Kunsthistorikerin – es ging sie, als Malerin, vital an, dass sie keine weiblichen Vorbilder kannte und lange Jahre mühselig nach ihnen suchen musste. Viele ihrer Bilder sind deshalb Verfremdungen oder Umdeutungen bekannter Motive: Es hilft einer Frau, der es ernst ist mit ihrer Kunst, nur der „schiefe Blick“ auf das von Männern Geleistete und die weiblichen Leistungen in der Kunst Verstellte, Totgeschwiegene: d. h. eine Neu-Interpretation, die zugleich eine Heimholung der Kunstgeschichte aus weiblichem Blick ist.

Den „schiefen Blick“, das in Wahrheit ein genaues Sehen ist, zeichnet auch Nochlins Arbeiten aus. In „Warum gab es keine großen Künstlerinnen?“ heißt es z. B. „Was wenn Picasso als Mädchen geboren worden wäre? Hätte Seňor Ruiz einer kleinen Pablita ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt und ihren Ehrgeiz angeregt?“
Und sie entlarvt die Verlogenheit gewisser Mythen, die sich offenbar immer noch hartnäckig halten – im Interesse einer männlich definierten Kunstgeschichte: „Was alle diese Geschichten (d. h. über Filippo Lippi, Poussin, Courbet oder Monet, die schon früh zu zeichnen begannen – als hätte es das bei Künstlerinnen nicht gegeben! D. Verf. in Sparre) betonen, ist das scheinbar übernatürliche, unbestimmte und von der Gesellschaft abgekoppelte Wesen künstlerischer Hochleistungen. Die halbreligiöse Auffassung von der Rolle des Künstlers wird im 19. Jahrhundert zur Hagiografie hochstilisiert, als Kunsthistoriker, Kritiker und nicht zuletzt einige Künstler selbst das Produzieren von Kunst zu einer Ersatzreligion erheben, zum letzten Bollwerk höherer Werte in einer materialistischen Welt. In der Heiligenlegende des 19. Jahrhunderts kämpft der Künstler gegen den entschiedenen familiären und gesellschaftlichen Widerstand, erduldet die Schlingen und Pfeile gesellschaftlicher Ächtung wie jeder christliche Märtyrer und schafft es zuletzt gegen alle Widrigkeiten – leider meist erst nach seinem Tod - , da aus seinem tiefsten Inneren dieser mystische, heilige Glanz strahlt: Genie.“ Nochlin erwähnt van Gogh, Cézanne und Gaugin oder Toulouse-Lautrec, der „sein aristokratisches Geburtsrecht zugunsten der verkommenen Umgebung tauschte, die ihn inspirierte“.

Aus einem derartigen Konzept von Kunst lässt sich, so Nochlin, das Fehlen großer Errungenschaften von Frauen in der Kunst als logischer Schluss formulieren: Hätten Frauen das Goldnugget des künstlerischen Genies, würde es sich zeigen. Es hat sich aber nie gezeigt. (…) Wenn Giotto, der unbedeutende Hirtenjunge, und van Gogh mit seinen Anfällen es schafften, warum dann nicht Frauen?“
Linda Nochlin erklärt warum: „Sobald man allerdings die Welt der Märchen und selbsterfüllenden Prophezeiungen hinter sich lässt und stattdessen einen unvoreingenommenen Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten wirft, in denen wichtiges Kunstschaffen stattfand, mit der gesamten Bandbreite an gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen im Lauf der Geschichte, stellt man fest, dass die Fragen, die für die Historikerin bzw. den Historiker fruchtbar oder relevant sind, sich ganz anders stellen. Man würde zum Beispiel fragen, aus welchen Gesellschaftsschichten in verschiedenen Epochen die meisten Künstler:innen stammten, aus welchen Klassen und Untergruppen. Welcher Anteil an Maler:innen und Bildhauer:innen oder, genauer gesagt, bedeutenden Maler:innen und Bildhauer:innen stammten aus Familien, in denen deren Väter oder andere nahe Verwandte Maler:innen oder Bildhauer:innen waren oder verwandte Berufe ausübten?“ Sie weist nach, dass die Weitergabe des künstlerischen Berufs des Vaters an den Sohn selbstverständlich war. „In der Reihe bedeutender Künstler kommen sofort Namen wie Holbein und Dürer, Raffael und Bernini in den Sinn; sogar in unserer Zeit finden sich Namen wie Picasso, Calder, Giacometti und Wyeth als Mitglieder von Künstlerfamilien.“

Wir wissen heute von wenigen Gegenbeispielen bei Malerinnen, deren Väter ebenfalls Maler waren: Orazio Gentileschi, Vater der heute endlich wiederentdeckten und gewürdigten Artemisia, war ein angesehener und erfolgreicher Maler. - Interessant in diesem Zusammenhang ist indes die Geschichte der „vier malenden Schwestern“ Anguissola: Sie waren nicht Töchter eines Malers oder aus einer Künstlerfamilie – sie stammen aus einer adligen Familie. Sofonisba (ca. 1530-1625), die älteste, galt als die begabteste von sechs Schwestern, die alle eine künstlerische Ausbildung erhielten. Entsprechend den Vorstellungen der italienischen Oberschicht von der Bedeutung einer frühzeitigen Erziehung wird sie sehr gefördert. Vier Jahre lang, von 1554 bis 1549, ist Sofonisba, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Helena, Schülerin von Bernardino Campi. Sie weigert sich, zu heiraten, weicht also von der traditionellen Frauenrolle ab.
Von ihr sind zwölf Selbstbildnisse bekannt. „Niemand in der Zeit zwischen Dürer und Rembrandt malte sich so häufig wie sie“, schreibt Hanna Gagel im Katalog zum „Verborgenen Museum“. Sofonisba Anguissola hatte königliche Förderer und Auftraggeber.
Gisela Breitling, 1980: „Wenn Sofonisbas Porträts ebenso gut sind wie die von Lorenzo Lotto, warum verschweigt man uns, dass es sie gibt? Weshalb zeigt man uns seine Bilder und nicht ihre? (…) In einer Gesellschaft zweierlei Geschlechts muß der Beitrag beider in Kultur und Geschichte zugänglich sein, mit derselben Sorgfalt und Aufmerksamkeit gesichert werden.“

Dies gilt erfreulicherweise heute z. B. für die Leistungen der Impressionistinnen. Die Werke von Berthe Morisot (1641-1895), Mary Cassatt (1845-1926), dem einzigen amerikanischen Mitglied der Pariser Impressionist/INNEN; Eva Gonzalès (1847-1883) und Marie Bracquemont (1840-1916), die 2008 in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt gezeigt wurden, erregten Staunen und Bewunderung: Ja, es gibt weibliches Genie; ja, es waren Rollenbrecherinnen; ja, wir können uns auf weibliche Vorbilder berufen. Denn im 19. Jahrhundert Künstlerin zu sein, bedeutete, am Rande und zugleich im Zentrum des kulturellen Lebens zu stehen. Die „Frau“ war nicht nur ein beherrschender Topos der Zeit, der mit einem bestimmten Idealbild verbunden war, es war auch das Jahrhundert, in dem Frauen mit vereinten Kräften versuchten, die Gesellschaft und ihre Begrifflichkeit, vor allen in Bezug auf Frauen, zu verändern.

Linda Nochlin untersucht in ihrem erstmals 1988 veröffentlichten Essay über „Arbeit und Freizeit in der impressionistischen Malerei“ das Innovative in den Bildern Berthe Morisots anhand eines Beispiels aus dem Jahre 1879: „La Nourice Angèle allaitant Julie Manet“: „Nichts ist übrig vom konventionellen Bildaufbau: Gestalt versus Hintergrund, feste Form versus Atmosphäre, detaillierte Ausarbeitung versus skizzenhafte Andeutung, die üblichen Komplexitäten von Komposition und Erzählung. Sie alle werden zugunsten einer Komposition aufgegeben, die in ihrer dreiteiligen Einfachheit beinahe befremdlich ist, eine Faktur, so dermaßen offen, so verwirrend entfesselt, dass sie eine Herausforderung an die Lesbarkeit darstellt, und eine so gewagte Farbgebung, so synoptisch in ihrem Bruch mit traditionellen Strategien der Modellierung, dass sie beinahe Fauve ist, bevor es diese Kunstrichtung überhaupt gab.“
Ebenso innovativ ist Morisots Motivwahl. „Es handelt sich nämlich nicht um eine modernisierte und säkularisierte Version der althergebrachten Madonna mit Kind, wie etwa Renoirs Aline aillant son fils Pierre oder unzählige Mutter-mit-Kind-Gemälden der anderen prominenten Impressionistin, Mary Cassatt. Es handelt sich, überraschenderweise, um eine Arbeitsszene. Die ‚Muter‘ ist hier keine echte Mutter, sondern eine sogenannte seconde mére, eine Stillamme, die das Kind nicht aus einem ‚natürlichen‘ Nährinstinkt heraus stillt, sondern als Vertreterin einer florierenden Branche, gegen Bezahlung.“

Ein weiterer Essay, aus dem Jahre 1999 befasst sich mit dem Werk von Mary Cassatt. Einige ihrer Motive – Mutter und Kind – werden mit Bildern Paula Becker-Modesohns verglichen, einer weiteren Malerin mit innovativer Kraft.

Eine Modernistin der neueren Zeit ist Sylvia Sleigh, deren Bilder, scheinbar von „altniederländischer Detailtreue“, einen „unverwechselbar eigenen Stil“ zeigen. Ihre Portraits von Männern und Frauen oder männliche Akte (z. B. The Turkish Bath“ aus dem Jahre 1973) „verweigerten die maskulinen Klischees des Businessanzugs mit Hemd und Krawatte, wie sie für offizielle Portraits typisch waren. Stattdessen zeigte Sleigh ihre Modelle nackt und ohne Scham, verführerisch und sinnlich in ihrer köstlichen Körperlichkeit“ – also die Umkehrung der bekannten Situation „Maler und nacktes weibliches Modell.“

Der Aufbruch begann in den 1970er Jahren, und ist noch lange nicht zu Ende: Frauen entdecken ihre verschüttete, immer wieder stumm gemachte Geschichte. Die im ersten Band insgesamt 14 Essays zur Thematik dokumentieren den langen Weg, den die feministische Geschichtsforschung zurückgelegt hat, und ihre erstaunlichen Funde. Trotzdem dürfen wir uns auf dem Erreichten nicht ausruhen, den gespannten Bogen nicht sinken lassen („Ihr Frauen habt doch nun erreicht, was ihr wolltet, nun denkt auch mal an die Männer und Kinder“, watschte Rudolf Augstein Alice Schwarzer in einem öffentlichen Streitgespräch ab). Darum ist die Warnung Nochlins ernst zu nehmen: „In Zeiten, in denen patriarchale Werte wiederkommen – wie sie es immer in Zeiten von Krieg und Stress tun -, ist es gut, Frauen als Verweigerinnen ihrer überkommenen Rollen als Opfer oder Unterstützerinnen zu betrachten. Es ist an der Zeit, die Grundlagen unserer Position zu überdenken und sie für den kommenden Kampf zu stärken. Als Feministin fürchte ich diesen offenen Rückfall in die krassesten Formen des Patriarchats – ein großer Moment für sogenannte ‚echte Männer‘, wie Fußballspieler oder Politiker, um ihre unheilvolle Vorherrschaft über ‚andere‘ durchzusetzen, vor allem Frauen und Farbige: die Rückkehr des kaum Unterdrückten. Maskuline Dominanz in der Kunstszene passt in diese Struktur, und wir müssen uns dessen bewusst sein. Ich denke, es ist ein kritischer Moment für den Feminismus und den Platz der Frauen in der Kunstszene. Jetzt müssen wir uns mehr denn je der vor uns liegenden Gefahren bewusst sein, ebenso wie der Errungenschaften der Vergangenheit. Wir müssen unsere gesamte Intelligenz und Energie einsetzen, um sicherzustellen, dass die Kunst der Frauen gesehen wird, die Stimmen der Frauen gehört werden, herausragende Leistungen von Frauen honoriert werden. Und wir müssen an einer Kunstszene arbeiten, in der hohe Qualität, nicht hohe Preise, als Prüfstein des Erfolgs gilt, für Männer und für Frauen gleichermaßen.“

Ärgerliches zur Übersetzung von Margot Fischer: sie ist teilweise ungenügend; da gibt es z. B. an einer Stelle die Formulierung „in keinster Weise“: das ist Blödsinn.

„Kein weiblicher Michelangelo in Sicht“? Schon was von Camille Claudel gehört? Oder von Renée Sintenis? Oder Emy Roeder, der bedeutendsten Bildhauerin des Expressionismus? – Zugleich denken wir an Linda Nochlins Erklärung, dass Genie auch gefördertes Talent ist; und gerade an Förderung und Ermutigung mangelt es Künstlerinnen oft.

Oder denken wir an die schwedische Malerin Hilma Af Klint (1862-1944) – eine Neuentdeckung eine kunsthistorische Sensation, die auch der feministischen Geschichtsschreibung neue Impulse gab: Die New York Times erklärte: „Hilma af Klints Werk verändert die Vergangenheit, es gehört uns. Seine Geschichte beginnt jetzt.“ Sogar die Massenmedien nehmen sich der Malerin an: „Hilma - Alle Farben der Seele“ – mit diesem Titel setzt Lasse Hallström der Malerin ein filmisches Denkmal. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Auseinandersetzung mit einer bedeutenden Künstlerin der Moderne ernsthafter betrieben wird als die Verfilmung des Lebens von Paula (Becker/Modersohn) oder Camille Claudel (wo es im Grunde nur um die dramatische Liebesbeziehung zu Auguste Rodin geht). Wir halten uns am besten an die Biographie der Malerin von Julia Voss „Die Menschheit in Erstaunen versetzen.“ Hilma af Klint (2020). Diese dickleibige Biographie (572 Seiten) ist in jeder Hinsicht fundamental: Auf Basis umfangreicher Recherchen erzählt Julia Voss das ungewöhnliche Leben dieser Ausnahmekünstlerin, zerstört zahlreiche Klischees und Mythen und zeichnet auch das Bild einer Epoche, in der politische Umbrüche nicht nur die Malerei revolutionierten. Hilma af Klint schuf mehr als tausend Gemälde, Skizzen und Aquarelle und revolutionierte die Malerei: Vor Kandinsky oder Mondrian malte sie abstrakt (nur in der männlichen Kunstgeschichtsschreibung wird es wohl noch lange beim alten bleiben). Hilma af Klint war eine Frau von großem Freiheitsstreben und zielstrebig in ihrer Kunst. Bewusst entzog sie sich den Spielregeln eines männlich dominierten Kunstbetriebs, an dem sich noch eine Gisela Breitling rieb. Hilma af Klint wusste, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Mit 70 Jahren verfügte sie, dass ihre Bilder erst 20 Jahre nach ihrem Tod zu sehen sein sollen. Julia Voss schreibt: „Daß Hilma af Klints malerisches Œuvre fast vollständig überliefert wurde, ist ein Glücksfall und eine absolute Ausnahme in der Kunstgeschichte (wir wissen z. B., dass Artemisia Gentileschi mehr Bilder gemalt hatte; aber Leinwände reißen, werden übermalt oder sorglos aufbewahrt; gehen verloren usw.; d. Verf. in Sparre). Die Spur von Künstlern, die wenig oder keinen Erfolg zu Lebzeiten haben, verliert sich häufig nach ihrem Tod und lässt sich kaum noch rekonstruieren. Gegen dieses Vergessen traf Hilma af Klint früh Maßnahmen. Der Plan allerdings, ihren Zeitgenossen das letzte Wort zu verweigern, wäre nicht aufgegangen, wenn es nicht jemanden gegeben hätte, der ihr dabei half, die Werke in die Zukunft hinüberzuretten, in die Zeit nach ihrem Tod. Zu diesen Komplizen machte die Malerin den Sohn ihres Bruders, Erik af Klint (1901-1981), den sie testamentarisch zum Haupterben erklärte. Ihr Neffe hielt sich an die Anweisungen und lagerte die Bilder und Notizbücher auf dem Dachboden des Wohngebäudes, in dem er in Stockholm lebte. Dort blieben sie mehr als zwei Jahrzehnte, bis zum Jahr 1966, als die Kisten geöffnet wurden, um die Leinwände aufzurollen und abzufotografieren. Sechs Jahre darauf gründete Erik af Klint die Stiftung Stiftelsen Hilma af Klints Verk, und die Anthroposophische Gesellschaft in Schweden stellte Räumlichkeiten zur Verfügung, in denen der Nachlass aufbewahrt werden konnte. Im Jahr 1979 übernahm Gustav af Klint, der älteste von Eriks Söhnen, die Leitung als Stiftungsvorsitzender. Johan af Klingt, der jüngere Bruder, folgte ihm 2011 nach und sorgte dafür, dass der Nachlass seiner Großtante 2017 in ein professionelles Museumsdepot überführt wurde. Sei diesem Jahr leitet Ulrika af Klint die Stiftung, die Tochter von Gustav af Klint.“ Hilma af Klint hinterließ mehr als 26 000 Seiten Text und 1300 Gemälde. Als ihre Werke erstmals 1986 in Los Angeles gezeigt wurden und wie ein Meteorit einschlugen, echauffierte sich der amerikanische Kunstkritiker Hilton Kramer: „Hilma af Klints Gemälde sind im Grunde bunte Diagramme. Ihnen einen Ehrenplatz neben den Werken von Kandinsky, Mondrian, Malevich und Kupka zu geben ist absurd. Af Klint ist einfach keine Künstlerin in dieser Klasse und – darf man es sagen? – würde nie diese inflationäre Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie keine Frau gewesen wäre.“

Frau und Genie, das geht nicht. Wirklich nicht? Was in den letzten Jahren an weiblichen Beiträgen zur Kunstgeschichte ausgegraben wurde, widerlegt jegliche Männer-Arroganz. Wenn jeder Nachlass einer Künstlerin solche Sorgfalt erfahren hätte, sähen die Kunstgeschichte und Kunstgeschichtsschreibung indes nochmal anders aus. Doch was Zerstörungslust, Gleichgültigkeit und Ignoranz trotzte, ist beeindruckend genug.

Germaine Greer (in ihrer dickleibigen, 1979 publizierten Monographie „Das unterdrückte Talent. Die Rolle der Frau in der bildenden Kunst“) resümiert: „Es gibt demnach keinen weiblichen Leonardo, Tizian oder Poussin; aber der Grund dafür liegt nicht darin, dass Frauen eine Gebärmutter haben, dass sie Kinder bekommen können, dass ihr Gehirn kleiner ist, dass ihnen die Kraft fehlt, dass sie nicht sinnlich sind. Die Ursache liegt einfach darin begründet, dass man einen großen Künstler nicht aus einem gestörten Ego formen kann, dessen Wille geschwächt, dessen Libido verdrängt und dessen Energie in (…) neurotische Kanäle geleitet ist.“
Ähnliches hatte 1930 bereits Virginia Woolf erklärt anhand der Biographie einer fiktiven Schwester Shakespeares. Es ist wirklich so, als ob jede Generation Frauen neuerlich beweisen muss, dass sie Menschen sind; dass sie gleich an Würde sind und gleich an Begabung; dass sie ein Recht und die Fähigkeit haben, diese Begabung zu schulen und Werke zu schaffen und mit diesem Werk zu einer Wirkmacht zu gelangen, genau wie Männer auch.

Gisela Breitling zitiert in ihrer Monographie von 1980 eine Gelehrte der Aufklärung (ja, Sie lesen richtig: Die Aufklärung begann nicht im frühen 18. Jahrhundert - sie begann weitaus früher – und ihre Pioniere waren Frauen – die immer „mit einem Bein“ im Feuer der Anklage der Ketzerei standen), Anna Maria von Schuurmann (1607-1678): „Denn es ist so weit gekommen, dass uns weder die Hoffnung gelassen wurde, uns an Ehre und Würde zu freuen, noch die auf Anerkennung unserer Verdienste, die doch die Seele zu höheren Flügen verlockt.
Vergebens ist unser Stolz auf den Adelstitel, den wir unserer Abstammung verdanken, wenn wir selbst für immer im Dunkeln schmachten müssen.
Daher wird es geschehen, dass in späteren Zeiten der Leser der Geschichte während einer langen Epoche nicht mehr Erinnerung an unsere Namen findet, als ein Schiff Spuren hinterlässt auf seinem Weg durch die Wellen.“

Die Aktualität dieser Äußerung gilt heute immer noch, unverändert (noch eine Virginia Woolf hatte Mühe, Werke und Namen von Komponistinnen zu finden; außer Germaine Taillefere und ihrer Freundin, Dame Ethel Smyth wusste sie keine weiteren): Es darf keinen weiblichen Michelangelo oder Leonardo geben – also gibt es sie nicht. Sie werden totgeschwiegen, weil „störend“ (und was „Kunst“ ist, was „bedeutend“, also „des Tradierens würdig““ ist, bestimmten und bestimmen immer noch Männer; also definieren sie auch, was „Genie“ ist und was bloßes „Kunsthandwerk“), dann „vergessen“, damit die Klageweiber kommender Generationen sie ausgraben können.

Es wird Zeit, nicht nur in den patriarchalischen Taubenschlägen zu rupfen – es wird Zeit, ein paar Täuber zu schlachten.

 

 


Maura Reilly (Hg),
Linda Nochlin, Warum gab es keine großen Künstlerinnen? Essays Band 1.
1971-1999 (aus dem Englischen von Margot Fischer)
Verlag: literaturverlag marsyas
Erscheinungsort: Wien 2023 (London 2015)
349 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-903469-02-0
Preis: 34 €

Julia Voss,
„Die Menschheit in Erstaunen versetzen.“ Hilma af Klint. Biographie
Verlag: S. Fischer Verlag
Erscheinungsort: Frankfurt a. M. 2020
572 Seiten, mit Abbildungen und Farbtafeln
ISBN: 978-3-10-397367-9
Preis: 25 €
Verlag: Fischer-Taschenbuch
Erscheinungsort: Frankfurt a. M. 2024
600 Seiten, 46 s/w-Abbildungen, 24 Seiten Tafelteil mit 43 farbigen Abbildungen
ISBN: 978-3-596-70255-8
Preis: 28 €