Ein deutscher Schriftsteller jüdischer Herkunft. Über die doppelte Existenz Lion Feuchtwangers
Er war – neben Thomas Mann und Stefan Zweig – einer der bekanntesten und meistgelesenen Autoren, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Doch auch im Exil blieb ihm der Ruhm treu. Er gehörte zu den ersten 33 Autor/INNEN, die ausgebürgert wurden; seine Bücher wurden öffentlich als „undeutsches Schriftgut“ verbrannt, seine liebevoll zusammengestellte Bibliothek zerstört, ebenso seine Manuskripte, an denen er noch gearbeitet hatte („Ich habe ein ganzes Jahr Arbeit verloren“), seine Schildkröten, da „jüdisch“, getötet, sein Haus konfisziert. Während seiner Amerika-Tournee 1932/33 erfuhr er, dass Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war. Lion Feuchtwanger kehrte nie wieder nach Deutschland zurück. Er war 49 Jahre alt, auf der Höhe seines Erfolgs und musste sich auf völlig neue Lebens- und Arbeitsbedingungen einstellen. In Sanary-sur-Mer, wo viele Emigrant/INNEN vorübergehend Zuflucht fanden, richtete er sich abermals ein: Arbeitszimmer, eine neue Bibliothek.
In Sanary-sur-mar, dem „Exil unter Palmen“, so der Titel einer Monographie von Magali Nieradka-Steiner, fällt, nahe beim Fremdenverkehrsamt, eine 2011 enthüllte mannshohe Gedenktafel auf, in drei Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch), die unter dem Titel „Sanary, Hauptstadt des künstlerischen und literarischen Exils“ 68 Namen deutschsprachiger Schriftsteller, Philosophen, Journalisten und Maler versammelt. Die Aufzählung beginnt mit dem Philosophen Erst Bloch und endet mit Stefan Zweig. Es ist eine Aufzählung von Menschen auf der Flucht.
Gottfried Benn höhnte, dass die Emigrant/INNEN, die ihre Heimat aufgrund von Lebensgefahr verlassen hatten, in Sanary Ferien machen. Er distanzierte sich nicht von Nazi-Deutschland, sondern von den Flüchtlingen. Er wurde von Klaus Mann harsch und öffentlich zurechtgewiesen. Lion Feuchtwanger wusste um das doppelte Gesicht der Idylle unter Palmen: „Im Frieden dieses hellen, lateinischen Meeresufers war es schwer zu begreifen, das nur zwanzig Stunden entfernt das Land des Alpdrucks lag, dieses Deutschland, über dessen große Städte plötzlich die Schrecken des Urwalds hereinbrachen“, heißt es in Feuchtwangers Roman „Die Geschwister Oppermann“.
Am 13. März 1938 hörte Feuchtwanger im Radio vom „Anschluß“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Er tat sich schwer, Frankreich zu verlassen und zögerte lange. Zwar beantragten er und seine Frau Visa für Amerika, doch fasste er am 14. August den folgenschweren Entschluß, das Frühjahr 1939 abzuwarten. „Was mich hielt, war die innige Behaglichkeit des Lebens dort, die Schönheit des Ortes, mein wohleingerichtetes Haus, meine geliebte Bibliothek, der vertraute, in allem Kleinsten mir und meinen Methoden angepasste Rahmen meiner Arbeit, die hundert Einzelheiten des dortigen Daseins.“
Er musste seine „Behaglichkeit“ verlassen: Nach dem September 1939, mit dem Überall der Deutschen auf Polen, bekam Feuchtwanger die Folgen seines Zögerns zu spüren: Der weltberühmte Exilant musste sich, wie alle Männer deutscher und österreichischer Abstammung, zwischen 18 und 60 Jahren, in ein französisches Internierungslager begeben, erst La Rode, später Les Milles. Ihm gelingt die Flucht, und am 5. Oktober 1940 geht er unter einem Pseudonym in Lissabon an Bord. Das Ziel ist Amerika. Feuchtwanger war knapp der Gestapo entkommen. Er bleibt in Los Angeles. Aus einem deutschen Juden wird ein Exilant – wird ein Kosmopolit.
Die Ausgabe mit dem provokanten Titel „Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller?“ enthält die Wortmeldungen, Essays und Ansprachen Lion Feuchtwangers, die dokumentieren, wie sehr er sich nicht erst seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 politisch empörte, sich einmischte und seinen Anspruch, als Kosmopolit für seine humanistische Überzeugung einzustehen, umsetzte.
Schon früh begriff er die Gefahr. Im Januar 1931 spricht er in einem in Die Welt am Abend veröffentlichten Text („Was haben die deutschen Intellektuellen vom Dritten Reich zu erwarten?“) von der „OBD = Organisierte Barbarei Deutschlands“. „Seinem Wesen und seiner Ideologie nach antilogisch, antigeistig, will der Nationalsozialismus die Vernunft absetzen und preist an ihrer Stelle das Gefühl, den Trieb, eben das Barbarische. Schon dadurch, dass Geist und Kunst übernational sind, sind sie dem Nationalismus im Tiefsten verdächtig und verhaßt. Knebelung des Geistes und der Kunst ist einer seiner wichtigsten Programmpunkte (…) Wo der Nationalsozialismus zur Macht gelangte, hat er sich mit besonderem Fanatismus gegen alles Geistige und alles Künstlerische gewandt. So gut wie kampflos hat das liberale Bürgertum alle kulturellen Positionen vor ihm geräumt.“
Und er warnt: „Was also die Intellektuellen und Künstler zu erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sichtbar erreicht wird, ist klar: Ausrottung. Das erwarten denn auch die meisten, und wer irgend unter den Geistigen es ermöglichen kann, bereitet heute seine Auswanderung vor.“ Er nennt Berlin „eine Stadt von lauter zukünftigen Emigranten“.
Es war eigentlich einem Zufall zu verdanken, dass er aus der Gefahrenzone rechtzeitig herauskam: Kurz vor den deutschen Wahlen kam er in die USA. Im Evening Standard berichtet er (unter dem englischen Titel „I Warn The Jew-Baiters“): „Während der Überfahrt auf dem Schiff kamen von Tag zu Tag mehr beunruhigende Radio-Nachrichten über Gewaltakte gegen Juden, Entrechtung, Mißhandlung, Beraubung, Totschlag. Ich konnte diese Nachrichten nicht glauben.“ Zwar las er das Buch „des Herrn Reichskanzlers“ („Mein Kampf“) mit Besorgnis „die Seiten, auf denen er sich in wilden und gewalttätigen Fantasien ergeht über die Rache, die den innerpolitischen Gegner einst treffen wird, und ich ersah mit tiefem Unbehagen das innige Vergnügen, mit dem der Herr Reichskanzler schildert, wie seine Parteigenossen ihren Gegner verprügelten.“ Ein Gegner Hitlers: „der Jude“.
In Paris trifft Feuchtwanger bereits die ersten Flüchtlinge. Sie berichten, wie sie mit eigenen Augen sahen, dass Leute aus fahrenden Untergrundbahnen geworfen wurden, „bloß weil sie jüdisch aussehen“. Immer wieder fand man verstümmelte Leichen. Oder Menschen „verschwanden“ einfach; man hörte nie wieder von ihnen. Feuchtwanger hört die verzweifelten Berichte von Frauen, deren Ehemänner brutal aus den Betten gerissen und misshandelt wurden.
Die Sammlung der drei Herausgeberinnen enthält auch Texte Feuchtwangers, die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden, z. B. „Das Dritte Reich und seine Regierung“ (um 1936). Feuchtwanger unterscheidet Reiche, die andere Kulturen übernahmen (wie z. B. die Makedonier, die sich bemühten Griechen zu werden, nachdem sie die griechische Welt unterworfen hatten, oder die Goten und Vandalen, die sich nach der Eroberung Roms bemühten, Römer zu werden) und solche, die das nicht tun: Gemeint ist das Deutsche Reich. „Die deutsche Unterschicht (…), die heute innerhalb des Deutschen Reichs die Majorität der Bevölkerung unterdrückt, bekennt sich zynisch zum entgegengesetzten Ziel. Ihr Zweck ist eingestandenermaßen die Zerschlagung der abendländischen Zivilisation, die Rückkehr zu den Anschauungen und Lebensformen des germanischen Urwalds.“ Zu korrigieren ist hier: Es war nicht nur die Unterschicht – und ob eine „Majorität der Bevölkerung unterdrückt wurde“, darf ebenfalls bezweifelt werden. Hitler war „der Erwählte seines Volkes“, wie Thomas Mann deprimiert formulierte.
Feuchtwanger polemisiert gegen die nationalsozialistischen Wertbegriffe: dass nicht die Leistung den Wert eines Menschen bestimmt, sondern seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Rasse“, nämlich der arischen. Diese Ideologie führte u. a. zur Bedrohung des Geistes, dem „freie(n) Wort. Die Vernichtung der Literatur (…), die Verbrennung von Büchern, ist vielleicht das wichtigste Symbol“ der Nazi-Herrschaft; und „vielleicht erklärt sich so ihr zügelloser Haß gegen die Juden, gegen jenes Volk, das einzig und allein durch ein Geistiges, durch ein Buch, durch die Bibel zusammengehalten wird.“
Lion Feuchtwanger war das erste von neun Kindern. Er wuchs in einem jüdisch-orthodoxen Haushalt auf, besaß also Kenntnisse von jüdischer Religion und jüdischem Selbstverständnis (obwohl der Begriff „jüdisches Volk“ vor 1948, dem Jahr der Gründung des Staates Israel, problematisch ist). Zugleich sah er sich als Deutscher: Sein Arbeitsgerät, sein gefühlsbeladener Arbeitsplatz ist die deutsche Sprache. In einem 1933 in französischer Sprache publizierten Text wirft er die Frage auf: „Bin ich ein deutscher oder jüdischer Schriftsteller“ und beantwortet seine Frage: „Ich pflege zu antworten, ich sei nicht das eine noch das andere: ich fühlte mich als internationaler Schriftsteller. Wahrscheinlich seien meine Inhalte mehr jüdisch betont, meine Form mehr deutsch.“
Natürlich sind das bloße Spitzfindigkeiten. Deutsch und Jüdisch war eins. Wobei indes gerade den assimilierten Juden nicht klar gewesen war, dass sie sich an den Antisemitismus assimilierten. Diese Menschen fielen dann ab 1933 aus allen Wolken. Auch das Bild von den „jüdischen Inhalten“ und der „deutschen Form“ ist schief. Tatsache aber ist: Das wirkliche, das geistige Deutschland war mit der „Machtergreifung“ Hitlers zum Exodus gezwungen.
Um eine Ahnung von der Dimension des kulturellen und menschlichen Verlustes für Deutschland zu vermitteln: - seit 1933 wurden rund 2500 deutsche Schriftsteller/INNEN aus rassischen oder politischen Gründen von den Nationalsozialisten vertrieben oder sie emigrierten, weil sie unter dem neuen Regime nicht leben und arbeiten konnten. Insgesamt wurden in der NS-Zeit über einer halben Million Menschen Heimat geraubt – und damit auch das Gefühl fragloser Zugehörigkeit. Nach 1933 flüchteten rund 30.000 Frauen und Männer, die den Nationalsozialisten aus (partei)politische Gründen ein Dorn im Auge waren. Hinzu kamen die etwa 5500 Kulturschaffenden, die im gleichgeschalteten Nazideutschland nicht mehr arbeiten konnten oder wollten. Menschen jüdischer Herkunft waren am stärksten gefährdet, „Emigration war für sie die einzige Alternative zu Entrechtung und Ermordung“, schreibt Claudia Schoppmann in der Einleitung zu ihrer Monographie „Im Fluchtgepäck die Sprache. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im Exil.“
Jürgen Serke schreibt in seiner Monographie über die Ursachen und Folgen des Exils, „Die verbrannten Dichter“: „Im Mai des Jahres 1933 strich Adolf Hitler eine ganze Generation von Schriftstellern aus dem Bewusstsein des deutschen Volkes. Als ´entartete Kunst´ wurden die Bücher fast aller deutschsprachigen Autoren von Rang und Namen den Flammen übergeben. Die Bücherverbrennung wirkte über den Zusammenbruch des ´Dritten Reiches´ hinaus. Was in den zwanziger Jahren gedichtet wurde, blieb weitgehend vergessen bis zum heutigen Tag. Die Liste derjenigen Schriftsteller (und Schriftstellerinnen; d. Verf. in), die unter den Nationalsozialisten diffamiert wurden, trägt Hunderte von Namen. So rigoros hat sich kein Volk von einer Literatur-Epoche trennen lassen.“ Fast die gesamte Literatur-Prominenz der Weimarer Republik war betroffen: Klaus Mann sprach von einem „Massenexodus“ der Dichter: „Noch nie zuvor in der Geschichte hat eine Nation innerhalb weniger Monate so viele ihrer dichterischen Repräsentanten eingebüßt.“
Der Preis, den sie für diese „Repräsentanz“ entrichten mussten, war für viele zu hoch: Die „Ehrenliste“ im Dritten Reich bedeutet für die Betreffenden die Zerstörung der bürgerlichen Existenz, der beruflichen Weiterentwicklung – und Lebensgefahr. Keine andere Liste – außer den Deportationslisten – ist von größerer Tragik umschattet. Feuchtwanger konnte auch im Exil den gewohnten Lebensstandard halten, auch wenn er – wie die Familie Mann - zweimal fliehen mußte. Er ist nicht vergessen worden – sein Ruhm wächst mit jedem Jahr. 1945 schreibt Feuchtwanger über die Prozesse in Nürnberg. Allerdings konnte er nicht persönlich den Prozessen beiwohnen, er hätte sonst sein Wohnrecht in Los Angeles verloren. Es gibt keine direkten Textzeugen, wie weit Feuchtwanger Kenntnis erhielt über die Dimensionen des Völkermords durch Nazi-Deutschland. Hier müssen wir uns an die Berichte der überlebenden Zeug/INNEN halten: Primo Levi, Jean Améry, Ruth Elias, Elie Wiesel, Paul Celan, Jenny Aloni, Netty Boleslav, Tuvia Rübner, Ida Fink, Janina David, Cordelia Edvardson, Ruzka Korzcak, Vitka Kempner-Kovner und andere.