Ethel Smyth
Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen

Eine weiße Krähe ungeladen im schwarzen Nest. Zu einer neuen Übersetzung autobiographischer Texte der englischen Komponistin Dame Ethel Smyth – und eine Monographie über 250 Komponistinnen

Virginia Woolf schreibt über ihre streitbare und kämpferische Freundin: „Sie ist vom Stamm der Pioniere, der Bahnbrecher. Sie ist vorausgegangen und hat Bäume gefällt und Felsen gesprengt und Brücken gebaut und so den Weg bereitet für die, die nach ihr kommen.“ Und die so Charakterisierte über sich: „Mir scheint, die Stunde der Frauen in der Musikwelt hat geschlagen. Und zufällig bin gerade ich da.“

Heute wissen wir: Die Worte Woolfs über Ethel Smyth – die 1922 geadelt als Dame Commander of the Order of the British Empire, geehrt wurde und mit dem Ehrendoktor der University of St. Andrews und dem der University of Oxford – sind eine Beschwörung einer Zukunft selbstverständlicher Akzeptanz und Tradierung weiblicher Genies, die immer noch nicht gänzlich eingelöst wurde – wenn sich auch Fortschritte gegenüber 1929 (als Woolf ihre Polemik „Ein Zimmer für sich allein“ publizierte. Darin beklagt sie sich u. a. auch darüber, dass es „zu viele Biographien großer Männer“ gäbe) zeigen. Doch der Fortschritt – z. B. um festgefahrene Definitionen zu widerlegen – ist bekanntlich eine Schnecke.
Doch Ethel Smyths umfangreiches Werk ist der überzeugende Beweis gegen die immer noch gern tradierte männliche Überzeugung, dass Frauen „unfähig sind, zu komponieren“ – ist Ethel Smyth deshalb heute so unbekannt? Denn die Methodik, die im Ausschluß der Frau als Schöpferin von Sinn in der Kulturgeschichte existiert – trotz zahlreicher Gegenbeweise – zeigt uns, dass wir es mit einem schwer zu besiegenden Gegner zu tun haben. Doch mittlerweile haben wir eine Menge Gegenbeweise; wir müssen sie nur zur Kenntnis nehmen. „Ich glaube, dass alle Kulturleistungen von Frauen erfunden worden sind“, erklärte 1989 Elfriede Jelinek in einem Gespräch mit Alice Schwarzer. Die feministische Forschung, seit ungefähr den 1970er Jahren, hat dafür auch zahlreiche Beweise gefunden. Dies gilt außer für Fanny Mendelssohn Hensel (über die es inzwischen etliche Monographien gibt; 1984 war es eine Sensation, als die Dirigentin Elke Mascha Blankenburg Fannys „Oratorium nach Bildern der Bibel“ Bibel“ uraufführte), für Augusta Holmés (von der Arno Lücker schreibt, dass ihre „Orchestermusik, in Sachen Instrumentation und Erzählkraft anderen (gläubigen) Post-Wagnerianerinnen und –Wagnerianern in nichts nachsteht. Im Gegenteil. (…) Richtig gute Musik“) oder für Germaine Tailleferre auch für Ethel Smyth. Immerhin war ihr umfangreiches Werk zu Lebzeiten weithin bekannt und wurde oft aufgeführt. Sie war eine von Berlin bis New York umjubelte Komponistin.

Ethel Smyth war – was „man“ ihr offenbar übel nahm – eine Frau mit einer „männlichen Anmaßung“, d. h. sie ging ganz selbstverständlich von der Wirkmacht ihre Kompositionen aus. Sie war, rebellisch in ihrem Denken, Schreiben, Komponieren und Handeln und galt für „anstrengend“; gleichgültig ließ sie niemanden. Quentin Bell, Neffe und erster Biograph seiner Tante Virginia Woolf, bezeichnet deren Freundin Ethel Smyth als eine „faszinierende“ und „unglaublich anspruchsvolle Person“. Und: „Sie war nie langweilig“ – zweifellos das höchste Lob, das er zu vergeben hatte. Smyths Exzentrik, ihre Vitalität und starker Wille, die feste Überzeugung von der Qualität und Bedeutung ihres Werks halfen ihr zweifellos, den angestrebten Erfolg zu erreichen. Sie gründete sogar ein eigenes Frauenorchester.

Stein um Stein, Werk um Werk, Buch um Buch (insgesamt zehn autobiographische Bücher) hat sich diese Frau ein eigenes Haus gebaut im Feld des Patriarchats, d. h. gegen eine fremdbestimmte Definition hat sie sich selbst ermächtigt, das zu sein, was sie immer sein und tun wollte, angefangen beim Schweigen- und Hungerstreik im Elternhaus, um ihren Wunsch, Musik zu machen, Komposition in Deutschland zu studieren, durchzusetzen. Die Definitionsversuche des Patriarchats waren für diese couragierte und vitale Frau herrenloses Gut. Es interessierte sie einfach nicht. Sie benutzte die Kunst, um ein Schuß aus einer Waffe zu werden, gegen die Ignoranz gegenüber den Kulturleistungen von Frauen. Darum war sie zwei Jahre lang Mitkämpferin für die Sache des Frauenwahlrechts und war zwei Monate im berüchtigten Gefängnis in Holloway interniert – zusammen mit hundert anderen kämpferischen Suffragetten, auch der berühmten Freundin Emmeline Pankhurst und deren Tochter Christabel.

Virginia Wolf, in ihrer 1930 veröffentlichten Streitschrift „Ein eigenes Zimmer“ auf der Suche nach einer weiblichen Tradition in der Musik, kannte – außer Ethel Smyth – nur Germaine Tailleferre („Die Komponistin steht da, wo zu Shakespeares Zeiten die Frau stand. (…) Und hier, sagte ich, ein Buch über Musik aufschlagend, finden wir in diesem Jahr des Heils 1928 genau dieselben Worte wieder benutzt, über Frauen, die versuchen, zu komponieren. ‚Zu Mlle Tailleferre kann man nur Dr. Johnsons Diktum in bezug auf Frauen als Prediger wiederholen, übertragen auf die Welt der Musik.‘ ‚Sir, ein komponierendes Weib gleicht einem aufrecht gehenden Hund. Beide tun es nicht gut, allein man wundert sich, dass sie es überhaupt tun‘. So präzise wiederholt sich Geschichte.“ Anzumerken sei hier, dass Germaine Tailleferre zu dieser Zeit bereits für ihr Konzert für zwei Klaviere (1924) und das Concertino für Harfe und Orchester (1926) bekannt war.).

Ich erinnere mich, dass wir als Schüler/INNEN im Musikunterricht ein Buch bekommen haben, in dem zum Beispiel die „vier berühmten Bs“ abgehandelt wurden: Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. Außerdem noch Händel, Schubert, Schumann, Richard Wagner, Mahler und Max Reger. Ein vages Unbehagen, das ich mit meinen 14, 15 oder 16 Jahren noch nicht artikulieren, ja, kaum denken konnte (weil mir in diesem jugendlichen Alter Vergleichsmöglichkeiten fehlten), verdrängte ich; so würde ich es heute sehen.
Die Gründe für die Abwesenheit von Komponistinnen in der Geschichte und im Bewusstsein menschlicher Kulturleistungen sind einfach: Was zur „Kulturleistung“ gehört, was des Tradierens, des „kollektiven Gedächtnisses“ würdig ist, wird von Männern definiert. Unsere Kultur ist extrem patriarchalisch, immer noch. Immer noch werden komponierenden, schreibenden, malenden Frauen hohe Hürden in den Weg gestellt. Mathilde Ludendorff (1877-1966) schreibt 1927 in ihrem Essay „Künstlerische Begabung“: „Wir mussten schon wiederholt das große Hemmnis für das Selbstvertrauen der Frau nennen: die allgewaltige, von frühester Kindheit an einwirkende Suggestion ihrer Unfähigkeit zum künstlerischen Schaffen. Aber vielleicht, so könnte man einwenden, wird eine begabte Frau dadurch erst recht zum Schaffen angeregt, vielleicht weckt dieses Vorurteil in ihr den Wunsch, durch ihre Leistungen das Gegenteil zu beweisen!“ Ethel Smyth hatte diese eiserne Natur; auch Germaine Taillefere. Doch in zu vielen anderen Fällen trifft zu, was Mathilde Ludendorff schreibt: „Wer das annimmt (d. h. frau könne einer von Kindheit an eingegebenen Suggestion dem Bewusstsein ihrer Minderwertigkeit entkommen; d. Verf.in), macht sich einen schlechten Begriff davon, wie eine Kindheitssuggestion, die überdies noch täglich neue Bestätigung durch geschichtliche Tatsachen erfährt, auf unsere Seele wirkt. (…) Solche Suggestionen entfalten ihre wichtigsten Wirkungen im Unterbewusstsein, sie hindern das Entstehen gewisser Stimmungen, gewisser Denkvorgänge, Urteile und Handlungen, ohne daß uns im Bewusstsein klar wird, dass derartige Hemmungen stattgefunden haben.“ Ludendorff war Psychiaterin, und sie beschrieb genau die Folgen von Entmutigung in jungen Jahren. Als Beispiel fällt uns Fanny Mendelssohn-Hensel ein, von der mehr als vierhundert Kompositionen existieren. Doch sie durfte nur im halböffentlichen Rahmen, d. h. bei den „Sonntagsmusiken“ im Salon des Elternhauses ihre Kompositionen aufführen. Ihr Vater erklärte ihr: „Die Musik wird für Felix vielleicht zum Beruf, während sie für dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Fanny, die immer wieder gegen lähmende Depressionen ankämpfen musste – „Kräht ja doch kein Hahn nach meiner Musik und tanzt niemand nach meiner Pfeife.“ Und 1928: „Wie einem zu Mut ist, der ein Lied machen will, weiß ich gar nicht mehr “ – setzte sich erst spät, wenige Jahre vor ihrem frühen Tod (sie wurde nur 42 Jahre) über das elterliche Verbot hinweg und publizierte ihre Kompositionen, d. h. sie trat öffentlich als Komponistin in Erscheinung und beanspruchte diesen „Grundbaß“ für sich.

Auch was Ingeborg von Bronsart (1840-1913) schrieb, gilt eigentlich immer noch: „Nach meiner Überzeugung dürfte im allgemeinen eine ernstlich strebende, talentvolle, schaffende Künstlerin im Interesse ihrer Kunst nicht heiraten, da in den meisten Fällen die Pflichten der Hausfrau und Mutter einer künstlerische Entwicklung schwer zu übersteigende Hindernisse in den Weg legen.“ Und: „Bei einer Ehe würde aber hauptsächlich in Betracht kommen, ob der Mann Verständnis und liebevolles Interesse für die Kunst seiner Frau hegt und imstande ist, für die Pflege und Ausbildung ihres Talentes durch Ersparnis ihrer Zeit und Kraft zu sorgen. Dabei würden die pekuniären Verhältnisse sehr mitsprechen.“ Ingeborg von Bronsart resümiert ihre Überlegungen: nach ihrer „innersten Überzeugung“ gilt für die „schaffende Künstlerin das Wort des Apostels Paulus: ‚Heiraten ist gut, Nichtheiraten ist besser‘.“ Zwei bedeutende Komponistinnen fallen mir hierzu als Beispiele ein: Fanny Mendelssohn-Hensel wurde von ihrem Mann, dem Maler Wilhelm Hensel, ernst genommen und immer unterstützt – Ethel Symth wählte einen anderen Weg (abgesehen davon, dass sie offen lesbisch war): sie band sich nie.

Die Folgen für das Nicht Ernst Nehmen der Frau als „schaffende Künstlerin“ zeigen sich bereits in der ihrer Ausbildung: Luise Adolpha LeBeau (1850-1927), die unverheiratet blieb, schreibt 1878: „Vermißt man aber bei Frauen im allgemeinen tieferes Eingehen in ein Kunstwerk, so ist der Grund hierfür nicht in der Unfähigkeit des weiblichen Geschlechts, sondern zunächst in der mangelhaften, oft verspäteten Ausbildung zu suchen. Wie viele Eltern versäumen es, ihre Töchter gründlich unterrichten zu lassen. (…) Wie anders stünde es um die Leistungen des weiblichen Geschlechts, würde beizeiten für eine gründliche Ausbildung gesorgt.“ Die Komponistin S. Jessel (Eva Rieger, 1980: „Biographisches unbekannt“, auch Google weiß nichts über sie) schreibt 1898 in ihrem Essay „Warum gibt es so wenig Komponistinnen?“: „Ich möchte den Versuch wagen, einen Nachweis zu liefern, warum die Zahl der komponierenden Frauen eine so geringe ist, im Gegensatz zu der großen Anzahl männlicher Tondichter. (…) Die Frauen sind seit Jahrhunderten eben auch nicht für die Kunst der musikalischen Komposition erzogen worden! Sollen sie etwa jetzt, wo das Gebiet anfängt, sich den Frauen zu erschließen, mit einem Male einen weiblichen Bach, Mozart oder Beethoven hervorzubringen imstande sein? Wie oft sind solche denn auch von den Männern hervorgebracht worden?“

Wir begreifen, dass Genie nichts weiter ist als gefördertes und gefordertes Talent – gefordert – statt es als „suspekt“ oder „unwichtig“ abzutun. Heute wissen wir es besser, wir konnten eine Tradition von Komponistinnen entdecken und haben jetzt sogar die Chance, die Kompositionen von rund 250 (zweihundertfünfzig!) Komponistinnen zu hören – und es ist ein Mann – Arno Lücker – der all diese Werke und Biographien zusammengetragen hat: Die Methode ist genial einfach: Es gibt einen biographischen Abriß der jeweiligen Komponistin, dann wird ein bestimmtes Werk beschrieben – neben der Seite 18 („Vom Text zur Musik“) gibt es einen QR-Code, der zu einer Webseite führt, „auf der alle Links zu den im Buch beschriebenen Komponistinnenwerken aufgelistet sind. Von dort brauchen Sie lediglich noch zur jeweiligen Kapitelnummer zu scrollen.“ Also „nur noch ein Klick bis zur Hörlektüre!“
Lücks Arbeit geht zurück auf die Artikelserie „250 Komponistinnen“, die er von Oktober 2019 bis Juli 2023 vor das VAN Magazin (www.cvan-magazin.de) schrieb. Alle Artikel wurden für die Buchausgabe überarbeitet und erweitert (das Literaturverzeichnis ist indes unvollständig, d. h. zu knapp!). „Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung“, wie es so schön heißt – ich indes wünsche mir mehr weibliche Anwesenheit in gegenwärtigem Diskurs und Musikwelt: Warum also immer nur Felix Mendelssohn Bartholdy in Konzertankündigungen – und nicht seine Schwester Fanny Mendelsohn-Hensel, von der sowohl Goethe (wahrlich kein Feminist) als auch Fanny Lewald erklärten, sie sei ihrem Bruder ebenbürtig? Warum nicht endlich eine Aufführung z. B. einer der insgesamt sechs Opern Ethel Smyths? „Der Wald“, „Fantasio“, „Strandrecht“ („The Wreckers“), „The Baotswain‘s Mate“ oder „The Prison“? Oder ihre Orchester- und Kammermusik – ein gewaltiger Werkkatalog (Smyth wurde 85 Jahre) – berühmt, oft erwähnt, aber in Deutschland m. W. auch nicht im gängigen Repertoire vertreten – die „Marseillaise der Suffragetten“ – Der „March of the Women.“

Die Herausgeberin und Übersetzung eines umfangreichen Querschnitts der Erinnerungen Ethel Smyths, Heddi Feilhauer (bereits 1988 übersetzte Eva Rieger einen Querschnitt der Autobiographik der Komponistin im Kasseler Bäreneiter Verlag unter dem Titel „Ein stürmischer Winter. Erinnerungen einer streitbaren Komponistin“; leider ist diese Arbeit vergriffen), erwähnt, dass in Glyndbourne, einem „gefeierten Kultort“ von einem „der besten Opernhäuser Europas, inmitten der herrlichen Landschaften von Sussex, bei dessen jährlichen Festivals“ im Sommer 2022 die „erste Oper einer Komponistin“ aufgeführt wurde: „The Wreckers“ von Ethel Smyth. Weiter: „Im September desselben Jahres fand ein Symposium am Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin statt mit anschließender konzertanter Aufführung derselben Oper in der Berliner Philharmonie. Am Weltfrauentag 2022 wurde eine Statue, die Ethel Smyth dirigierend und in Lebensgröße zeigt, in ihrem Wohnort Woking enthüllt. 2021 gewann ein Vokalalbum von The Prison einen Grammy und im Frühjahr 2020 widmete die Feminale der Musik des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe ihr eine virtuelle Podiumsdiskussion. 2018/2019 anläßlich des Jubiläums von ´100 Jahre Frauenwahlrecht´ gab es in Deutschland und England Gesprächskonzerte mit verschiedenen Werken von Ethel Smyth. Und bereits 2008 wurden zu ihrem 150. Geburtstag Symposien an den Hochschulen für Musik Detmold und Paderborn sowie an der University of Oxford veranstaltet (…).“
Wo „immer ihrer gedacht wird, in welcher Form auch immer, sind die Menschen erstaunt, wie vielfältig die Begabungen und Facetten dieser außergewöhnlichen Frau sind“: Sie war Komponistin und Dirigentin, Netzwerkerin, Schriftstellerin und Suffragette; sie war offen lesbisch (schon das junge Mädchen führte ein „Buch der Leidenschaften“, „der die Mädchen und Frauen auflistet, die für meinen Heiratsantrag in Frage kämen, wenn ich ein Mann wäre“). Sie warb unermüdlich für das eigene Werk: Die Uraufführung von „The Prison“ im Februar „1931 in Edinburgh war ein großer Erfolg bei Publikum und Presse“.

Heddi Feilhauers Übersetzung (Feilhauer studierte Anglistik und Germanistik) ist ein klug gewählter Querschnitt aus dem umfangreichen autobiographischen Werk der Komponistin; wir erfahren über die Kindheit des „Sturmvogels“ Ethel, über ihr Musikstudium in Leipzig (sie nahm Privatstunden, weil das Konservatorium ihren Ansprüchen nicht gerecht werden konnte), über die Ignoranz von Johannes Brahms ihren Kompositionen gegenüber. Das wichtigste Kapitel („Die Suffragetten“) indes handelt von dem Kampf der englischen Frauen um elementare Menschenrechte: Das Recht, zu wählen. Die sportlich begabte und begeisterte Ethel Smyth unterrichtet Emmeline Pankhurst, Fensterscheiben einzuwerfen, doch die Lektionen führten zu keinem nennenswerten Ergebnis… Ethel berichtet stolz von „ihrer“ eingeworfenen Fensterscheibe. „Im Januar 1918 wurde den Frauen schließlich das Wahlrecht zuerkannt, eine Nachricht, die wir alle ohne große Gemütsregung aufnahmen, weil der Krieg alles überschattete.“ Ethel Smyth berichtet auch von den Ehrungen, die sie erfuhr – doch sie wußte nur zu gut, dass sie als Frau in einer „Männerbastion“ zu kämpfen hatte; und „wer möchte schon eine ungestüme weiße Krähe zur Freundin haben, die ungeladen in das gemütliche, schwarze Nest hineinfliegt!“ Für diejenigen unter Ihnen, die die von Feilhauer genannten Veranstaltungen und Konzerte verpaßt haben, gibt es einen Trost: Es gibt mehrere CDs mit der Musik von Ethel Smyth; und googelt man den Namen, kann man z. B. Ausschnitte aus „The Boatswain‘s Mate“ hören, auch die Ouvertüre.

Doch mein Wunsch, meine Forderung bleiben: Kompositionen von Frauen sollen aus der „Frauenecke“ herausgeholt und zum allgemeinen Repertoire der Orchester gehören – in Deutschland – und überall in der Welt. So verzeichnet z. B. die Monographie über Fanny Hensel in der edition text + kritik (1997; Hg. Martina Helmig) zwar eine mehrseitige Diskografie – doch fehlt für die Leistungen von Komponistinnen, grundsätzlich, immer noch ein öffentliches Wissen, ein öffentliches Bewusstsein, dass Genie kein Geschlecht hat. Und was halten Sie von diesen 5 „Bs“: Marion Bauer, Lili Boulanger, Anne Boyd, Katherine Balch, Ingeborg von Bronsart.
Die Liste Arno Lücks macht fassungslos – ich muß hier gestehen, dass mir nur 17 Namen (bzw. einige ihrer Werke) ein Begriff (und nicht einmal ein festumrissener) waren (ich folge der Reihenfolge Lücks, also nichtchronologisch): Johanna Kinkel (Sie ist einigen von Ihnen vielleicht eher als Freiheitskämpferin von 1848 bekannt; sie und ihr Mann Gottfried mußten nach Londoner fliehen), Luisa Adolpha Le Beau, Alma Mahler-Werfel (von ihr existierten über hundert Kompositionen – ganze 17 Lieder haben sich erhalten), Lili und Nadia Boulanger (Nadia war auch die Kompositionslehrerin u. a. von Leonard Bernstein), Felicitas Kukuck, Maria Theresia von Paradis, Francesca Caccini; Ruth Zechlin, Louise Farrenc (von ihrer Musik gibt es immerhin einige CDs), Annette von Droste-Hülshoff (ja, Sie lesen richtig: die Dichterin komponierte auch), Germaine Tailleferre (ihr größtes persönliches Hindernis war der Vater, ein Weinhändler; erst als Germaines Werk rühmend in einer Zeitung genannt wurde, unterstützte er sie endlich), Fanny Mendelsohn-Hensel, Adriana Hölszky, Clara Schumann (die das Diktum von der „weiblichen Minderwertigkeit“ offenbar früh verinnerlichte; „ein Frauenzimmer muß nicht komponieren wollen“, schrieb die Zwanzigjährige 1839 in ihr Tagebuch, „es konnte noch keine, sollte ich dazu bestimmt sein?“ Auch der Mangel an Vorbildern, einer Tradition weiblichen Komponierens kann sich lähmend auf den Mut einer Frau auswirken), Ethel Smyth, Barbara Strozzi.

Die verdienstvolle Monographie Lückers ist nicht einmal vollständig: In einem Katalog „Komponistinnen in Berlin“ (1987), herausgegeben von Bettina Brand, Martina Helmig, Barbara Kaiser, Birgit Salomon und Adje Westerkamp, fand ich weitere Namen von Komponistinnen, wie Bettine von Arnim, Luise Reichardt (nicht identisch mit der von Lück aufgeführten Juliane Reichardt), Emilie Mayer („Auf den Spuren einer vergessenen Komponistin“, lautet der Titel des biographischen und musikwissenschaftlichen Essays von Martina Sichardt), Jacqueline Fontyn, Margarete von Mikusch, Evelyn Faltis, Ruth Schonthal, Birgit Havenstein, Jenny Dieckmann, Chris Baumgarten, Lotte Backes, Katherine Hoover; in „Frau und Musik“ von Eva Rieger: Philippine Schick und Ingeborg von Bronsart.

Dies zeigt: Wir stehen eigentlich immer noch am Anfang – allein schon aufgrund der fast nicht vorhandenen Präsenz von Werken von Komponistinnen im öffentlichen Bewusstsein und im Musikbetrieb – als müssten wir in jeder Generation das Rad neu erfinden: 1980 brachte die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger „Frau und Musik“ heraus, mit Texten von Nina d‘Aubigny, Adele Gerhardt (beide nicht in Lücks Monographie vertreten), Johanna Kinkel, Alma Mahler-Werfel und Clara Schumann. Doch jetzt folgen Sie dem QR-Code Lückers und hören Sie die Beweise weiblicher Genies. Wir sollten diese Entdeckungen – und die oft gegen enorme Hindernisse ankämpfenden Komponistinnen, ihre oft seit Jahrhunderten ignorierten Kulturleistungen – mit Respekt und Dankbarkeit wahrnehmen.

 

 


Heddi Feilhauer (Hg. und Übers.),
Ethel Smyth, Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen
Verlag: Ebersbach 6 Simon
Erscheinungsort: Berlin 2023
240 Seiten
ISBN: 978-3-86915-286-8
Preis: 24 Euro

Arno Lücker,
250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte
Verlag: Aufbau Verlag (Sonderband von „Die andere Bibliothek“)
Erscheinungsort: Berlin 2023
631 Seiten, mit zwanzig Porträts von Chiara Jacobs
ISB: 978-3-8477-0023-4
Preis: 58 Euro