Glück ist Leid
Spurensuche auf dem Lebensweg von Sofie Benz

Eine Malerin ohne Werk – und zwei Biographien

Ein altes Passbild, grobkörnig wirkend: Ein melancholisch wirkendes junges Gesicht, umrahmt von offenbar geflochtenen Haaren: Sofie Benz (1884-1911), Kunststudentin und Malerin, hat außer zwei Skizzen kein Werk hinterlassen (vieles ging verloren oder wurde zerstört), doch sind Spuren von ihr in der Literatur zu finden, vor allem als Geliebte des Würzburger Schriftstellers Leonhard Frank und des Psychoanalytikers Otto Gross, der einen verhängnisvollen Einfuß auf sie ausübte und für ihren frühen Tod verantwortlich ist. Aufgewachsen in einer gutbürgerlichen Familie in Ellwangen/Württemberg, kommt Sofie Benz 1902 zum Kunststudium nach Schwabing (damals das Zentrum innovativer Kunst), lernt 1906 in Ascona Leonhard Frank kennen und lieben, kann sich aber wenige Jahre später nicht dem Einfluß von Otto Gross entziehen. Bei ihm suchte sie Antworten auf Lebensfragen - die sich aber nur jeder/jede selbst beantworten muß. In seinem Beisein (und eigentlich von ihm angestiftet) begeht sie 1911 Selbstmord durch eine Überdosis Morphium (das ihr nur Otto Gross gegeben haben konnte). Durch die Auswertung von 75 Briefen und weiteren hier erstmals publizierten Dokumenten konnte die Autorin Petra Brixel das Leben ihrer Großtante biografisch aufarbeiten und in das soziokulturelle Umfeld des frühen 20. Jahrhunderts einbetten. Der Titel Glück ist Leid ist ein Zitat aus einem der Briefe Sofies.

Der Würzburger Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961), der in München Kunst studierte, mit dem Ziel, „Kunstmaler werden, und zweifellos der berühmteste von allen“, beschreibt in seinem 1952 veröffentlichen Roman „Links wo das Herz ist“ (der etliche, z. T. dramaturgisch verdichtet, Elemente seiner eigenen Biographie enthält) die Begegnung mit der jungen Künstlerin (er schreibt Sophie), die seine erste Liebe wird (und deren Spuren noch in seiner 1957 veröffentlichten Erzählung „Michaels Rückkehr“ nachweisbar sind in der Gestalt der Bildhauerin Sofie, die Selbstmord begeht; sie war „immer nur dünn mit dem Leben verbunden, es gehört nicht viel dazu, fortzugehen“, lässt Frank die Bildhauerin in ihrem Abschiedsbrief schreiben. Da ist auch von einem „sanften Madonnengesicht“ die Rede – genauso hatte Frank Sofie Benz beschrieben): Die Einrichtung von Sofies Atelier „bestand aus zwei Ottomanen, einer Kiste mit Spirituskocher, dem zwei Meter langen Zeichentisch, einer runden Sitzbadewanne aus Holz und einem dreiteiligen verstellbaren mannshohen Spiegel, den sie für fünf Mark bei einem Trödler gekauft hatte. An den Wänden hingen, mit Reißnägeln angeheftet, Dutzende Aktstudien, in Tusche, Bleistift, Sepia, Rötel, einige stellenweise leicht aquarelliert, und alle nach demselben schönen Mädchenkörper. Sophie hatte vor dem verstellbaren Spiegel immer wieder das Modell gezeichnet, das nichts kostete – ihren Akt, in allen Größen, mehrmals lebensgroß, in allen erdenklichen Stellungen, kniend, stehend, liegend, und von allen Seiten: eine primitive Madonna mit hochangesetzten kleinen Brüsten und schmalem Becken, das dennoch den weiblichen Schwung hatte und Platz für das Kind.“

„Ihm gegenüber hingen in der Mitte der Wand zwei größere Sophie-Akte dicht nebeneinander, Rückansicht und Vorderansicht, beide stehend, und darunter ein mit Rötel gezeichneter lebensgroßer liegender Akt, in allen Einzelheiten mit Schatten und Kreide-Glanzlichtern plastisch ausgearbeitet. Sophie lag auf dem Rücken, Kopf schulterwärts geneigt, Augen geschlossen und die entspannte Hand am Leib, wie die Venus von Giorgione.“ Sophie fragt Leonhard Frank (alias Michael Vierkant) „in aller Unschuld nichts als die Kunststudentin, wie ihm die Aktstudien gefielen. (…) ‚Es ist noch nichts, ich weiß. Ich sollte noch viel, viel mehr Akt zeichnen, jahrelang, bevor ich einen Pinsel anrühre´. Sophie (…) sprach stark den schwäbischen Dialekt. ‚Michelangelo hat sicher hunderttausend Akte gezeichnet, bevor er seinen David modellierte und die Sixtinische Kapelle ausmalte‘.“ Leider ist nichts von all diesen Arbeiten erhalten geblieben – nur die Briefe an ihre Schwester Emilie.

In der Darstellung seines literarischen Alter Ego, Michael Vierkant schreibt der Autor, er habe das „Empfinden, barfüßig durch Brennsesseln zu waten, weil er auch jetzt nicht auszusprechen wagte, was er ihr seit Tagen hatte sagen wollen – wie sehr er wünschte, dass sie seine Freundin würde.“ In der Darstellung Leonhard Franks ist es „Doktor Kreuz“ (damit ist Otto Gross gemeint), der, laut Franks Bericht, einen verhängnisvollen Einfuß auf das junge Paar hatte: Er habe Frank und Benz miteinander verkuppelt, weil Sofies Unberührtheit ihm nicht geheuer wäre: das erschien ihm „gefährlich komplexhaft und ihrer nicht würdig. Alle verließen das Zimmer, Hals über Kopf, als hätten sie soeben entdeckt, dass Sophie die Cholera habe. ‚Hoffentlich wird er Sophie deflorieren, damit auch sie das brennende Problem der Epoche mit den Augen der Mitte sieht‘, sagte der Russe (…). Sophies Gesicht war bis zum Haaransatz glührot geworden. Michael, der die Blicke des Doktors ebenfalls bemerkt hatte und dunkel ahnte, dass sie auch ihn angingen, studierte interessiert das Tapetenmuster. Plötzlich reckte Sophie das Kinn hoch, resolut, als hätte sie sich durch eine innere Anstrengung befreit von ihrer Verlegenheit, und während sie fragte, ob er mit zu ihr kommen wolle, in ihr Atelier, erschien wieder das warme anmutige Lächeln, mit dem sie ihn bei der ersten Begegnung in der Malschule, ohne es zu wissen, zum Gefangenen gemacht hatte.“ Es folgt die Beschreibung des Ateliers und der Arbeiten der jungen Künstlerin.

Der Psychologe Doktor Otto Gross, ist historisch verbürgt. Er war „damals bedeutend und heute weitgehend vergessen“, schreibt Katharina Rudolph in ihrer 2020 veröffentlichten Biographie Leonhard Franks, „Rebell im Maßanzug“. Christof Goddemeier (in Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe Mai 2020) schreibt anläßlich des hundertsten Todestags von Otto Gross, dass er sich mit kriminologischen, darwinistischen, psychiatrischen und psychoanalytischen Themen“ befasst habe. Er war ein „abtrünniger Schüler Freuds und Emil Kraepelins, Paradies-Sucher, Enfant terrible, Sexualimmoralist, Genie und psychiatrischer Fall – die Attribute zeigen Otto Gross´ Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit.“, aber auch seine geradezu pathologische Schamlosigkeit. „Er beeindruckte zahlreiche Künstler und Schriftsteller seiner Zeit, die ihn und/oder seine Thesen literarisierten. In Übereinstimmung mit seinen Lehrern fand Gross die Ursache psychiatrischer und etlicher somatischer Krankheiten in fehlgeleiteter und unterdrückter Sexualität. Doch ähnlich wie später Wilhelm Reich und im Unterschied zu Freud sah Gross in der Sexualität das ´universelle Motiv für eine Unendlichkeit an unseren Konflikten´ und kritisierte eine `Sexualmoral, die in unlösbarem Konflikt mit allem steht, was Wert und Willen und Wirklichkeit´ ist´.“ Als Erster erkannte Gross die soziale Bedingtheit psychoanalytischer Befunde. Anders als Freud, der sich damit begnügte, individuelle Krankheiten zu behandeln, plädierte Gross dafür, die Unterdrückung des Einzelnen durch eine repressive Gesellschaft mit Hilfe der Psychoanalyse aufzuheben.

Otto Gross´ Leben ist ohne die Beziehung zu seinem Vater nicht zu verstehen. Hans Gross ist an der Grazer Universität Professor für Kriminalistik, er hatte die Kriminologie als eine eigenständige Wissenschaft etabliert (interessant ist hier, dass in Franks Erzählung „Michaels Rückkehr“ der Gefängnisdirektor - der dann den Bettel hinwirft - ein kriminologisches Fachbuch schreiben will) und begründete das erste kriminalistische Untersuchungsinstitut. Er ist eine bekannte, dabei äußerst willensstarke und dominante Persönlichkeit. Demokratische Rechte von Mitbestimmung und Teilhabe an Entscheidungen sind ihm fremd. Die Mutter hat sich offenbar vollständig ihrem Mann untergeordnet (das war damals üblich) und auf ein eigenes Leben weitgehend verzichtet, als Person tritt sie nicht in Erscheinung. „Das Einzelkind Otto verlebt eine behütete Kindheit, besucht Privatschulen und studiert nach der Matura in Graz, München und Strassburg Medizin.“ 1889 wird Gross in Graz promoviert. Als Schiffsarzt beginnt er Kokain, Morphium und Opium zu konsumieren (er wird letztendlich von dieser Sucht nicht mehr loskommen und auch dadurch bedingt, für den Tod zweier Personen verantwortlich sein) und gewöhnt sich bald an einen regelmäßigen Gebrauch. Gross arbeitet später als Assistenzarzt bei Gabriel Anton in Graz und Hans Gudden in München, einem Sohn des Psychiaters Bernhard von Gudden, der 1886 mit dem bayerischen König Ludwig II. im Starnberger See ertrank. Zudem beschäftigt sich Gross intensiv mit der neu aufkommenden Psychoanalyse. Für kurze Zeit arbeiten Vater und Sohn zusammen. Seine ersten Schriften veröffentlicht Otto Gross im vom Vater begründeten „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik“. Doch Otto hat Beziehungen zu Frauen, die der Vater als „unpassend“ empfindet, weil sie womöglich nicht standesgemäß sind. Der Vater greift ein. Bereits im Text „Zur Frage der sozialen Hemmungsvorstellungen“ werden die „ideologischen Unterschiede zwischen Vater und Sohn deutlich.“ Otto Gross sieht das ´“schwierigste Problem, bei der physiologischen Erklärung psychischer Vorhänge“ in der „unbegreifliche(n) Mannigfaltigkeit der Letzteren“. Eine eigentliche Willensfreiheit kann er nicht erkennen, und Strafe und Gerechtigkeit nimmt er nicht einfach als von vornherein feststehend hin. Im Unterschied zu seinem Vater begegnet er antisozial Agierenden mit einer gewissen Sympathie. Eine gleichwohl von ihm befürwortete Strafe nennt er eine „furchtbare Brutalität“ und eine „ebenso notwendige als ungerechte Gerechtigkeit“. 1906 ist er Privatdozent. Vermutlich um diese Zeit lernt er Freud persönlich kennen. Seine psychoanalytischen Arbeiten werden in Fachkreisen interessiert aufgenommen. Eine Trennung von Geist und Körper lehnt Gross ab. „Die Ursachen psychischer Störungen liegen für Gross nicht im sexuellen Bereich, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sexuelle Konflikte sind dann ein ‚Produkt des Milieus, ein Ausdruck der Zeitverhältnisse und ihrer Rückwirkung auf den Einzelnen (…)‘. Demnach ist die Psychoanalyse nicht Natur-, sondern Sozialwissenschaft, Psychotherapie wird notwendig politisch.

1903 hatte Gross Frieda Schloffer geheiratet. Über Else von Richthofens Freundschaft mit Schloffer und Marianne Weber ergibt sich eine Verbindung zum Soziologen Max Weber in Heidelberg. Der schätzt Gross als Mensch, doch seine Thesen lehnt er ab.“ Mehrmals reist Goss zum Monte Verità bei Ascona im Schweizer Tessin. Hier treffen sich Anfang des 20. Jahrhunderts Nudisten, Lebensreformer, Anarchisten, Pazifisten, Künstler und Schriftsteller – für Gross ein Ort des freien Geistes, an dem er seine Ideen weiter zu entwickeln hofft. Er lernt den Anarchisten Erich Mühsam kennen und beeinflusst ihn nachhaltig. Zum Kurieren neurotischer Symptome empfiehlt er einen „Sexualimmoralismus´“. Seine ersten Söhne – mit seiner Frau und mit Else, die mit Edgar Jafffé verheiratet ist – werden 1907 geboren und erhalten beide den Namen Peter. Zudem unterhält Gross eine Liebesbeziehung zu Elses Schwester Frieda, die mit dem englischen Philologen Ernest Weekley eine unglückliche Ehe führt. 1919 wird Else Max Webers Geliebte. „In München hat die Avantgarde ihre Heimat in Schwabing – für Gross ein Ort, an dem die Menschen sich aus bürgerlicher Enge und Bedrückung befreien. In der Klinik gerät er mit seinem Lehrer und Vorgesetzten Emil Kraepelin aneinander. Ihm und anderen Vertreter einer patriarchalen, schulmedizinischen Psychiatrie wirft er mangelnde psychoanalytische Kompetenz vor.“

Nicht nur Freud und die Psychoanalytiker lehnen Gross‘ Ideen ab. Kritik kommt auch aus sozialistischen Kreisen, etwa von Gustav Landauer. Carl Gustav Jung bedauert 1907 in einem Brief, „daß Gross so psychopathisch ist; er ist in sehr gescheiter Kopf“. Im Mai 1908 überweist Freud Gross persönlich an Jung, Oberarzt in der Zürcher Universitätsklinik Burghölzli. Im Anschluß an die stationäre Behandlung will Freud ihn selbst übernehmen. Gross ist bereits das zweite Mal in der Klinik, beim ersten Aufenthalt lauteten die Diagnosen „Morphinismus“ und „Psychopathie“. Jetzt lautet die Diagnose „Dementia praecox“. Gross unterzieht sich der Behandlung freiwillig, doch bereits nach wenigen Wochen verläßt er die Klinik wieder.

In München und Ascona wird Gross auf Johann Jakob Bachofens Studie über das Mutterrecht (1861) aufmerksam. Der Einfluß dieser Arbeit findet sich in allen späteren Schriften von Gross. „Die kommende Evolution ist die Revolution des Mutterrechts“, schreibt er 1913. Dafür muß man ihm zufolge alles überwinden, was die patriarchale Gesellschaft aufrecht hält. Im Dezember 1913 attestieren zwei Amtsärzte bei Gross „Wahnsinn“ sowie die „Unfähigkeit, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen“. Im Januar des folgenden Jahres stellt das k. u. k Landgericht ihn unter Kuratel und ernennt seinen Vater zu seinem Vormund. Nach Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken wird er ein Jahr später als „geheilt“ entlassen. Gross zu einem psychiatrischen Fall zu erklären, kommt zunächst einem Berufsverbot gleich. 1916 wird die Kuratel wegen „Wahnsinns“ in eine „beschränkte Kuratel“ wegen „Verschwendung“ umgewandelt. Das bezieht sich vor allem auf Gross´ Drogensucht. „Im Februar 1920 wird Gross von Freunden halb verhungert und frierend aufgefunden, nachdem er sie vorher im Streit verlassen hatte. Zwei Tage später stirbt er im Sanatorium in Berlin-Pankow.“

Ich habe aus dem Deutschen Ärzteblatt deshalb z. T. ausführlich zitiert, weil Otto Gross heute kein festumrissener Begriff mehr ist; er war Teil eines „Kreises“ in Münchens Café Stefanie und in Ascona. Doch im Deutschen Ärzteblatt kommen viele Aspekte nicht zur Sprache, die ich für wichtig halte, so Otto Gross´ anmaßende und verhängnisvolle Einmischung in eine Liebebeziehung zwischen dem jungen Leonhard Frank und Sofie Benz, was wir einerseits durch Frank wissen, aber auch durch die Biographie Petra Brixels: Durch sie erfahren wir zudem, dass Gross bereits einmal am Tod einer Frau schuldig wurde, ebenfalls in Ascona: er leistete „Sterbehilfe“ an einer Depressionskranken, Lote Hattemer, die als „schrullig“ galt; niemand „nahm hinter ihrer Schrulligkeit die psychische Not wahr.“

Erich Mühsam schreibt in seiner Schrift „Ascona“ ein Kapitel über Lote Hattemer: „So hat Lotte unbedingt Anspruch darauf, als originellstes Wesen der ganzen Gegend angesprochen zu werden (…). Ihre Originalität hat einen starken Einschlag ins Groteske, Abenteuerliche, Absurde (…). Irgendwo im Freien verstreut, liegt eine Decke und ein Reisigbündel. Das ist Lottes Nachtlager.“ Weitere Autor/INNEN, die sie beschrieben, waren die Schriftstellerin Gabriele Reuter, die Anfang des 20. Jahrhunderts große Erfolge mit Gesellschaftsromanen erlangte und 1905 gleichfalls auf dem Monte Verità lebt, und Käthe Kruse, die Lotte Hattemer so beschreibt: „Sie war Lehrerin gewesen. Eine hochgebildete, tief leidenschaftliche Frau. Jetzt mit sich und der Welt zerfallen, gänzlich verkommen. (..) Mit Schrecken sah ich, dass ihr Weg zum sicheren Hungertode führen musste. (..) In der letzten Nacht nahm Lotte Gift und erwachte nicht mehr.“

Der Schriftsteller Emil Ludwig, der im Februar 1906 zusammen mit einer späteren Frau eine Steinhütte im Wald oberhalb von Ascona bezog, nimmt Lotte Hattember kurzfristig bei sich auf. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er von ihrem Tod: „Am entscheidenden Tag ihres Lebens lernten wir sie kennen. Verfroren, in Hemd und Rock, mit Augen wie ein flüchtendes Reh, saß sie eines Morgens im strömenden Regen auf unserer Steintreppe und bat, beinahe wortlos, um Schutz. (…) Als es dämmerte, der Regen hatte aufgehört, erschien ein schöner junger Mensch mit schmelzender Stimme und verlangte sie zu sehen, er war es, vor dem sie, nach ein paar Andeutungen, sich fürchtete.“ Der junge Mann soll Johannes Nohl (im Roman Franks „Johannes Wohl“ genannt) gewesen sein.

Dreieinhalb Jahre nach Lottes Tod interessiert sich die Justiz Fall. Otto Gross wurde als Beteiligter „an einem Giftmord“ genannt. Zusammen mit Johannes Nohl soll als Dritter ein Mann namens Arthur Weiler an dem Giftmord beteiligt gewesen sein. Die Sache ging ohne konkrete Anklage aus (wie im Fall von Sofie Benz auch); man unterstellte Lotte Hattemer, dass sie bereits schon vorher versucht haben, ihr Leben zu beenden. -

Und Weiteres ist richtig zu stellen, obwohl natürlich ein Roman kein Tatsachenbericht ist: - Leonhard Frank erzählt (als seine Alias-Gestalt Michael Vierkant), dass Otto Gross („Doktor Kreuz“) ihn mit Sofie Benz verkuppelt habe – und erst später zerstörerisch in diese Liebesbeziehung eingegriffen habe. Die Wirklichkeit ist, dass Frank Sofie Benz in Ascona kennen – und liebengelernt hatte – und es trifft zu, daß Gross dann störend in die Beziehung eingriff und Sofie Benz von sich (und dem Morphium) abhängig machte.

Interessant an der Monographie Brixels ist auch der Bericht über eine Freundin Sofies, die Malerin Anna Haag, die heute völlig unbekannt ist (nicht einmal in WIKIPEDIA findet sich eine Angabe). In „Links wo das Herz ist“ wird sie kurz erwähnt: Angeblich habe sie sich „in die Brust geschossen“, weil sie sich unglücklich in einen Dirigenten verliebt hatte. „Der Dirigent mit dem eleganten Rücken hatte es ihr angetan.“

Petra Brixel weist nach, dass Franks Beschreibung nicht zutrifft; im Polizeiarchiv liegt nichts vor. Aber Anna Haag erleidet einen schweren Zusammenbruch, landet in einer Klinik; Sofie Benz kümmert sich um alles, besucht die kranke Freundin; bittet ihre Schwester Emilie um Geld, um Anna Haag noch besser helfen zu können, sie räumt Annas Atelier aus, sorgt für eine neue Wohnung renoviert sie und richte sie her, sie geht sogar mit der Freundin Kleider kaufen. – Überraschend taucht dann Hilfe auf – von einem „Freund“ wird Geld geschickt, damit sich Anna am Lago Maggiore ausruhen kann. Erst viel später wird bekannt, wer geholfen hatte: Es war Otto Gross, der durch seinen erfolgreichen Vater über Geldmittel verfügte. Er hatte auch Leonhard Frank und andere Personen finanziell unterstützt. Über Anna Haag erfahren wir nichts weiter (in Brixels Monographie ist ein Gemälde Haag – in Schwarz-Weiß, abgebildet); sie tritt, obwohl sie die Freundin von Sofie Benz war, in den Hintergrund, als Sofie und Leonhard Frank ein Liebespaar werden.

Sofie Benz – eine Künstlerin, deren Werk verschollen ist. Die Malerin und feministische Kunsthistorikerin Gisela Breitling (1939-2018) schreibt in ihrer erstmals 1980 veröffentlichten Kunstgeschichte über die Leistungen von Frauen in der bildenden Kunst, „Die Spur des Schiffs in den Wellen“, dass es zahlreiche Beispiele ähnlicher Schicksale gäbe; Bilder werden zerstört, gehen verloren; Werke von Künstlerinnen werden totgeschwiegen, unterdrückt. Künstlerinnen erlebten – und erleben heute immer noch - dass sie aus der männlich definierten und tradierten Kunst- und Kulturgeschichte, dem „Wertekanon“ ausgemustert werden, dass ihr künstlerischer Ehrgeiz nicht ernst genommen wird. Petra Brixel berichtet, von Versuchen der Schwester Emilie, Zeichnungen von Sofie in einer Kunstzeitschrift zu veröffentlichen. Seitdem sind auch diese wenigen noch erhalten gebliebenen Arbeiten verschollen. Der Redakteur hatte sich offensichtlich nicht die Mühe gemacht, die Arbeiten zurückzusenden.