Der Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen in den Lagern der Wehrmacht, in den Konzentrationslagern und durch Erschießungen ist eines der größten Massenverbrechen des Nationalsozialismus. Gleichwohl ist es noch immer ein Stiefkind der zeithistorischen Forschung. Auch Zeugnisliteratur zu diesem Themenfeld ist rar gesät. Die Erinnerungen eines jüdischen Offiziers der Roten Armee, der in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten ist, kommt dabei schon fast einem Wunder gleich.
Um ein solches Wunder handelt es sich bei den Erinnerungen von Moisej Beniaminowitsch Temkin, die Reinhard Otto herausgegeben und mit Hilfe vieler Weiterer kenntnisreich kommentiert hat. Temkin ist gar der einzige jüdische Offizier, der bereits zur Erschießung bestimmt war, der dennoch die Lager überleben konnte. Wie er dies geschafft hat, erzählt er in seinem eindrücklichen Erinnerungsbericht.
Temkin geriet bereits im Juli 1941 bei Mitau in deutsche Gefangenschaft und kam über mehrere Stationen ins Deutsche Reich, wo ihn die Gestapo Nürnberg-Fürth zur Erschießung bestimmte, da er Jude und Offizier war und als solcher unter den sogenannten Kommissarbefehl fiel. In letzter Minute jedoch wurde er aus unbekannten Gründen aus dem Kreis der Todeskandidaten wieder herausgeholt. In den folgenden Jahren durchlebte er die Konzentrationslager Dachau, Mauthausen, ein Arbeitskommando in Friedrichshafen, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Dort wurde er im April 1945 schließlich befreit.
Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion widerfuhr Temkin ein zweites Wunder. Im Unterschied zu vielen anderen heimkehrenden Kriegsgefangenen und ehemaligen Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion musste er nicht als vermeintlicher Verräter in der Verbannung leben oder in einem der Lager des Gulag Arbeit leisten. Temkin erhielt seinen Offiziersgrad zurück und arbeitete später als Ingenieur. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus, wo er 2006 starb.
Temkin schildert seinen Weg von den ersten Tagen der Gefangenschaft, über die verschiedenen Lager bis zur Befreiung sehr anschaulich und genau. So legt er die Brutalität der Täter und des Systems offen, die auch manche seiner Mitgefangenen korrumpierte und zu Komplizen werden ließ. Die Absurditäten der Rassenideologie der Nationalsozialisten zeigt er eindrücklich auf, etwa in der Schilderung seiner ‚Exoten‘-Stellung in Dachau. Es seien immer wieder SS-Männer, auch hochrangige, gekommen, um den jüdischen Offizier zu sehen: „Der Kommissar wurde als eine Art Monster angesehen. Wir waren wie seltene Tiere in einem Zoo. Mich ließ man auf einen Hocker steigen und befahl mir, gerade zu schauen, den Kopf nach rechts, dann nach links zu drehen, das Hemd aufzumachen und die Brust zu zeigen. Die SS-Leute betrachteten mich sehr genau und nickten einander zu: ‚Ja, ja, es ist ein Halbjude.‘“ (S. 72)
Das gesamte System der Folter, des Terrors, der Gewalt der Häftlinge untereinander, des Hungers und der Zwangsarbeit, aber auch der Solidarität mancher führt Temkin dem Leser eindringlich vor Augen. Reinhard Otto, ein ausgewiesener Experte der Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg, führt mit einer instruktiven Einleitung in die Thematik und in die Biographie Temkins ein. Sein Bericht selbst ist hervorragend kommentiert von Spezialistinnen und Spezialisten für die jeweilige Station Temkins – ein Beispiel, das Schule machen könnte.
Die Erinnerungen von Moisej Beniaminowitsch Temkin sind im wahrsten Sinne des Wortes ein einzigartiges Zeugnis. Wer über eines der größten Massenverbrechen der Nationalsozialisten im Bilde sein möchte, kommt in Zukunft – neben verdienstvollen Forschungsarbeiten freilich – nicht um den Bericht Temkins herum. Dass solche Dokumente heute noch, über 70 Jahre nach Kriegsende, zu entdecken sind, unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschung, gerade auch zu den sowjetischen Kriegsgefangenen.