In den vergangenen Jahren hat der französische Schriftsteller Léon Werth eine kleine Renaissance und Neuentdeckung in Deutschland erfahren. 2016 war nach zwanzig Jahren wieder sein eindringlicher Bericht von der Flucht vor der einmarschierenden Deutschen von Paris nach Südfrankreich auf Deutsch erhältlich. Darin hatte er eindrücklich von den Flüchtlingsmassen, die sich zwischen der in Auflösung befindlichen französischen Armee auf den Landstraßen gen Süden drängten.
Wer sich seinerzeit die Frage gestellt hat, wie es mit diesem aufmerksamen und sprachgewaltigen Beobachter seiner Zeit weitergegangen ist, kann die Antwort darauf nun in einem in mehrfachem Sinne schwergewichtigen Buch finden. Das Tagebuch der Jahre 1940 bis 1944 liegt nun in deutscher Erstübersetzung vor. Tag für Tag hat Werth hier aus dem Alltag eines im Verborgenen lebenden Flüchtlings erzählt. Er sitzt in der ländlichen Abgeschiedenheit des Jura und schafft es doch, dem Besatzungs- und Kriegsgeschehen sehr nahe zu sein, indem er Informationen aus allen Kanälen aufsaugt und scharfsinnig verarbeitet – aus Gesprächen mit den Bauern, aus der Propagandapresse der Vichy-Regierung und aus anderen Quellen. Werth litt sehr unter der Isolation, er sah sich als „Gefangener im Ferienhaus“ (S. 26), umso mehr dürstete er nach Informationen, zuverlässigen Informationen.
Das Phänomen des gefährdeten oder gar verfolgten Intellektuellen, der – nach zuverlässigen Informationen über die Zeitläufte dürstend – sein Dasein in der Abgeschiedenheit fristet, war ein gesamteuropäisches. Für alle deutsch besetzten Länder, auch für Deutschland selbst, lassen sich ähnliche Beispiele anführen. Viele von ihnen haben wie Léon Werth wichtige Tagebücher hinterlassen, die davon zeugen. Sie zeugen davon, wie Werth und andere es vermochten, die Propaganda zu sezieren, wie sie in all dem Nebel eine klare Sicht bewahren beziehungsweise sich erarbeiten konnten und schließlich auch wie sehr sie unter diesem Propagandaschleier litten. „Die Zeitung spricht in Andeutungen über die Kriegsgefangenen und die Lothringer“, klagt Werth zum Beispiel. Weiter schreibt er: „Ich weiß nichts anderes als das, was in der Zeitung steht. Die politische Wirklichkeit ist in die Zeitung gesperrt, so wie der Ewige in eine Rauchsäule gehüllt war“ (S. 104). An anderer Stelle, Monate später, bringt er die Verachtung der Presse auf den Punkt: „Wenn ich am Zeitungskiosk vorbeigehe, mache ich einen Bogen, als hätte ich eine Beschmutzung, eine schädliche Ausdünstung zu befürchten“ (S. 219).
Vor allem zeigt sich Werth entsetzt angesichts der Haltung der französischen Politiker und Behörden, die sich den Nationalsozialisten immer mehr anbiedern und angleichen. Doch auch in der Bevölkerung beobachtete er eine rasch einkehrende Resignation oder gar Gewöhnung an die neue Situation, ein Sich-Fügen in die neue Zeit: „Das Städtchen, das noch vor ein paar Tagen so in Sorge darüber war, was es im kommenden Winter essen würde, denkt nicht einmal mehr an den kommenden Winter. Es lebt von Tag zu Tag, es schläft“ (S. 73). Einige Monate später moniert er, dass die Rationierungen lebhaftes Thema und Objekt der Klage sind, der Verlust der Freiheit aber keine Sorge auslöst (vgl. S. 123). Das Tagebuch eröffnet auch Einblicke in menschliche Abgründe. Werth weiß von einem Mann zu berichten, der sich als entflohener Kriegsgefangener ausgibt, sich bei einem Priester nach Fluchtwegen informiert und diesen anschließend denunziert. Auch die Abstumpfung der Mitmenschen und seiner selbst beobachtet er fortwährend. So habe früher der Brand einer Scheune ein ganzes Dorf erschüttert, während zu Kriegszeiten die Zerstörung einer Stadt „nur ein Ereignis, ein Kriegsereignis“ (S. 243) sei.
Der scharfsinnige, mitunter ätzende und überhebliche Blick des Intellektuellen auf seine Zeit und seine Mitmenschen auf dem Dorf und darüber hinaus verrät vieles über das Leben unter deutscher Besatzung, über den Alltag auf dem Land, die Sorgen der Menschen – zumindest wie Werth sie wahrnahm – und über das Selbstbild, das ein Mensch wie er von sich zeichnet. Das Tagebuch ist ihm dabei der Ort, an dem er seinen Gedanken und auch seiner Verzweiflung freien Lauf lassen kann, denn anderen Menschen gegenüber kann er dies nicht mehr. Ähnlich wie viele andere solcher Tagebuchautoren sieht er noch mehr in seinem Schreiben: „Und ich leiste seit einem halben Jahr Widerstand – auf meinem Papier“ (S. 138).
Léon Werths Tagebuch ist eine Einladung an Leser, zu lernen, was es heißt, gegen seine Zeit zu leben und sich doch einen klaren Verstand zu bewahren. Es ist ein weiteres Lehrstück in kritischer Zeitgenossenschaft, das an vielen Stellen vorführt, wie beispielsweise Zeitungen, Propaganda allgemein, be- und hinterfragt werden können und sollten. Und es ist schließlich ein Zeugnis von Menschlichkeit in einer Zeit, in der die Werte eines Humanismus, für den Léon Werth auch stand, mit Füßen getreten wurden.