Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik

Vorliegender Band ist aus einem äußeren und einem inneren Grund ein bemerkenswertes Buch. Der äußere Grund ist der, daß man es endlich einmal mit einer Doktorarbeit – in Politischer Wissenschaft an der Freien Universität Berlin bei Peter Steinbach, angeregt und betreut von Helmut Quaritsch in Speyer – zu tun hat, die sich in überschaubaren Ausmaßen hält. Der innere Grund ist der, daß hier eine präzise Fragestellung in mustergültiger Weise abgehandelt wird, die einen handgreiflichen Erkenntnisfortschritt bringt.

Seit einiger Zeit ist bekannt – vornehmlich durch Ernst Rudolf Hubers Bericht auf einem von Quaritsch organisierten Carl-Schmitt-Symposion in Speyer, das unter dem Titel Complexio oppositorum veröffentlicht wurde –, daß Carl Schmitt in der allerletzten Phase der Weimarer Republik an Plänen von Schleichers beteiligt war, Hitler unbedingt von der Macht fernzuhalten. Berthold hat nun im Nachlaß Schmitts Dokumente gefunden, die diese Aktivitäten klarer sehen lassen, sein verfassungsrechtliches Denken an einem praktischen Fall präzisieren und mehr Licht auf sein politisches Verhalten werfen – dieses wird, um es gleich zu sagen, umso rätselhafter.

Durch das Übergewicht der verfassungsfeindlichen Parteien im Reichstag – Nationalsozialisten und Kommunisten – war eine positive Politik des Parlaments schon seit langem nicht mehr möglich; bekanntlich wurde daher mittels Notverordnungen des Reichspräsidenten von Hindenburg nach § 48 der Reichsverfassung regiert. Diese Situation verschärfte sich seit der Kanzlerschaft Franz von Papens 1932, so daß darüber nachgedacht werden mußte, den Staat überhaupt funktionsfähig zu halten. Aus der Umgebung Papens wurden diese auf eine dauerhafte Gesundung auf Grundlage der Verfassung gerichteten Überlegungen mit Plänen belastet, die auf einen vollständigen Verfassungsumbau hinausliefen; jedenfalls wurde ernsthaft daran gedacht, den Reichstag (abermals) aufzulösen, die Neuwahlen aber erst einmal nicht stattfinden zu lassen. Das war unmittelbar verfassungswidrig und hätte zudem erhebliche Unruhen provoziert.

Die im Nachlaß gefundenen Dokumente ergeben, daß Schmitt – unter Schleichers Kanzlerschaft – an einen anderen Weg dachte, der die Substanz der Verfassung unangetastet gelassen hätte. Drei von diesen Texten sind unter seinem Einfluß entstanden, der vierte stammt unmittelbar von ihm selbst. Der Gedanke dabei war, daß die destruktive Rolle des Reichtags sich besonders verderblich in Mißtrauensvoten gegen die Reichsregierung manifestierte, dergestalt, daß die verfassungsfeindlichen Parteien Regierungen zwar stürzen, aber wegen ihrer eigenen diametral auseinanderlaufenden politischen Ziele keine neue Regierung bilden konnten. Für einen solchen Fall schluß Schmitt vor, daß das Mißtrauensvotum bis zu einem positiven Beschluß zur Bildung einer neuen Regierung unbeachtlich sein solle. Das widersprach zwar im Wortlaut auch der Verfassung, hätte aber das Parlament weiter bestehen lassen und es gezwungen, sich auf einen konstruktiven Beschluß zu einigen. In der Zwischenzeit hätte die bisherige Regierung im Interesse der Stabilisierung der politischen Verhältnisse und der Zurückdrängung der revolutionären Parteien weiterarbeiten können. All das wurde nicht mehr Wirklichkeit, weil ganz im Sinne des Verfassungswortlauts Hindenburg schließlich den Vertreter der stärksten Partei, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannte.

Über die zeitgeschichtliche Faktizität hinaus ergeben sich drei Folgerungen: Erstens sind Schmitts Vorschläge nichts anderes als eine Vorform des dann im Grundgesetz verwirklichten konstruktiven Mißtrauensvotums; dieses war bei ihm schon in seiner Verfassungslehre von 1928 angelegt und wurde auch von anderen Autoren der Staatsrechtswissenschaft vertreten – auch wegen der breiten Vertretung dieser Ansicht konnte Schmitt seinen Vorschlag machen. Zweitens ist hier sozusagen an einem praktischen Beispiel zu sehen, was Carl Schmitt darunter verstand, daß es über die Einzelbestimmungen einer Verfassung hinaus Grundentscheidungen gebe, die nicht verändert werden dürften, bzw. notfalls durch Außerachtlassung von Einzelbestimmungen gerettet werden müßten. Drittens ist der biographische Ertrag erheblich. Jetzt ist unmittelbar nachgewiesen, daß Schmitt an Versuchen mitwirkte, die Weimarer Verfassung vor der NSDAP Hitlers zu retten. Umso rätselhafter oder besser ausklärungsbedürftiger ist sein Umschwenken zum Nationalsozialismus kurze Zeit später. Er selbst hat in einer Art Verstocktheit jede Auskunft darüber verweigert. Wer weiß, was der Nachlaß auch darüber eines Tages freigeben wird.