Aber eines bleibt, und das sind die Bücher, die zu diesem Ereignis erschienen sind. Sie stellen sozusagen ein festes Depot dar, auf das zurückgegriffen werden kann, wenn man Aufschlüsse über die Sachverhalte und ihre Interpretation haben will, und vielleicht werden sie ja eines Tages dazu beitragen, dem 17. Juni endlich den Ehrenplatz in der gesamten deutschen Geschichte zu verschaffen, den er verdient. Daher ist es gut, wenn heute, zwei Jahre nach dem Jubiläum und ohne den Zwang zur Aktualität, ein Teil dieser und einiger weiterer Werke in Ruhe durchgemustert wird. Die Bücher haben in der Erzählung der Ereignisse und in der Gesamtbewertung des Aufstandes zahlreiche Gemeinsamkeiten, wenn auch in unterschiedlicher Akzentsetzung. Zunächst einmal beruhen die meisten auf neu ausgewerteten Dokumenten. Dann sind sich alle darin einig, daß fast die gesamte DDR, keineswegs nur Berlins Ostsektor, vom Aufstand ergriffen war, alle berichten, daß es schon Vorboten gegeben hatte und daß er an nicht wenigen Stellen deutlich über den 17. Juni selbst hinweg andauerte. Die Spontaneität und Unorganisiertheit wird allgemein hervorgehoben, was zwar einerseits die Würde des Aufstands erhöhte, aber auch zu seiner schnellen Unterdrückung beitragen mußte.
An Zielen wird in den meisten Fällen zwar zunächst das Ökonomische als Ausgangspunkt oder Anlaß benannt, dennoch ist man sich darin einig, daß sofort die politische Forderung nach freien Wahlen, nach Sturz der kommunistischen Diktatur und nach Wiedervereinigung Deutschlands hinzukam (letzteres seltsamerweise von Hubertus Knabe bestritten). Demgemäß ist man sich, auch nach Analyse der beteiligten Bevölkerungsgruppen, darin einig, in der Erhebung nicht (nur) einen Arbeiter-, sondern auch und vor allem einen Volksaufstand zu sehen. Gemeinsamkeiten bestehen in der Wertung: einerseits als eines Aufstandes in der Tradition vor allem der- Revolution von 1848, andererseits als den ersten Nachkriegsaufstand gegen die kommunistische Diktatur, dem dann die weiteren von 1956, 1968 und schließlich 1989/1990 folgten. Bei den DDR-Gewaltigen stellte er ein dauerndes Trauma dar, während Westdeutschland ihn mehr und mehr aus dem Bewußtsein verlor. Daß er zur gesamten deutschen Geschichte gehört, ist übereinstimmende Meinung, ebenso die Klage darüber, daß dieses Bewußtsein weitgehend fehlt. All diese Gemeinsamkeiten werden im folgenden nicht mehr eigens hervorgehoben, sondern es werden nur die spezifischen Charakteristika jedes einzelnen Werkes benannt.
Anders als sonst üblich ' ich zum Beispiel habe es noch nie getan ' ist es möglich, eines der Bücher ohne Wenn und Aber sofort als das beste zu bezeichnen. Es ist Kowalczuk 2003. Das großformatige Buch ist äußerlich überaus ansprechend aufgemacht und enthält in plastischer Sprache alles, worauf es ankommt, sowie zutreffende Wertungen, dazu vorzügliche, großzügige Illustrationen. Wie die meisten anderen Werke auch, enthält es die Vorgeschichte insbesondere die des Jahres 1952, dann das Vorspiel des 'Neuen Kurses' im Mai 1953, eine Darstellung des Aufstandes selber, topographisch gegliedert, das Nachspiel der weiteren Entwicklung, eine Gesamteinschätzung und zahlreiche außerordentlich nützliche Übersichten und Register. Das allein wäre schon hinreichend, um die Bezeichnung 'am besten' zu rechtfertigen. Es ist aber noch eine CD hinzugefügt worden, die die Belegschaftsversammlung im Elektromotorenwerk Wernigerode vom 18. Juni wiedergibt. Zu hören, mit welcher Ruhe, Überlegenheit und Augenmaß die streikenden Aufständischen die Situation besprachen, ist höchster Bewunderung (und tiefer Scham gegenüber dem westdeutschen Beiseitestehen) wert ' und lähmende Depression befällt einen gegen Ende, wenn man hört, wie den Arbeitern allmählich bewußt wird, daß und wie die Sowjetarmee den Aufstand nun endgültig niedergeschlagen hat. Alle Deutungen und Interpretationen des Aufstandes sollten von diesem Dokument ausgehen.
Vorzüglich ist auch das ' wie alle anderen Bücher ' eher konventionell aufgemachte Buch Knabe 2003. Es enthält sehr lebendige Schilderungen, die aber nicht auf Kosten der verantwortbaren Objektivität gehen, sowie zahlreiche Auszüge aus Dokumenten im Textteil. Völlig unverständlich ist, wie schon gesagt, daß der Autor entgegen den Aussagen des Quellenmaterials zu der Auffassung gekommen ist, es sei der Mehrheit der Demonstranten nicht um die Wiedervereinigung gegangen (S. 18).
Koop 2003 enttäuscht. Anders als bei allen anderen Büchern sind die Anmerkungen und Literaturangaben völlig unzureichend, so daß der Leser die meisten Aussagen weder nachprüfen noch überhaupt weiterarbeiten kann; die Quellenstellen, die der Autor heranzieht, machen den Eindruck eher zufälliger Archivfunde, auf wissenschaftliche Vorgängerliteratur wird so gut wie nicht eingegangen, und inhaltlich bestehen teils große Lücken, teils wird auch hier mit eher zufälliger Gewichtung berichtet. Wenn der Untertitel verspricht, angeblicher bisheriger Legendenbildung die Wirklichkeit entgegenzusetzen, dann ist damit gemeint, bisher sei vorwiegend über Ost-Berlin und auch sonst nur punktuell geschrieben worden, ein manifester Irrtum, der von erheblicher Unkenntnis zeugt. Das alles ist schade, denn in den Wertungen und in der Absicht des Buches ist dem Autor meistens zuzustimmen.
Der zur Verfügung stehende Raum verbietet es, auf jedes Buch so ausführlich einzugehen, wie es das verdient hätte. Beispielhaft soll das zunächst nur bei Diedrich 2003 geschehen, freilich auch hier nur in Auswahl. Vor allem macht sich die Tatsache sehr positiv bemerkbar, daß der Autor Militärhistoriker ist. Demgemäß nimmt man mit großem Interesse alle Informationen zur Kenntnis, die sich auf die militärische Seite der Niederschlagung des Aufstandes beziehen, die Verläßlichkeit der bewaffneten DDR-Kräfte und schließlich derer, die die sehr frühzeitige Aufrüstung der DDR belegen. So hatte die DDR mit der Vorbereitung nationaler Streitkräfte 1948 'längst begonnen' (S. 2), bzw. es hatte 'auf sowjetische Weisung bereits im Frühjahr 1948 eine heimliche Aufrüstung begonnen' (S. 14); 1951 hatte die UdSSR eine 'Kadertruppe für eine DDR-Luftwaffe beschlossen', so daß von 1952 bis 1954 deutsche Piloten auf MiG 15 geschult wurden (S. 18); 1951 / 52 gab es bereits ein 'beachtliches militärisch geschultes Personal' (S. 15); 1952 waren 300.000 Mann geplant worden (S. 11) und es begann die Ausrüstung mit schweren Waffen (S. 17). Daher waren Einheiten der KVP, also der Kasernierten Volkspolizei, am 17. Juni auch verhältnismäßig hilflos, weil sie eben militärisch und nicht polizeilich ausgebildet waren (S. 77). Ja, man hatte bereits 'Anfang der fünfziger Jahre HVA<Hauptverwaltung für Ausbildung der KVP>-Offiziere darauf orientiert, bereit zu sein, ihren Dienst auch in Hamburg oder München zu verrichten' (S. 15).
Demgemäß verwundert es, wenn der Autor gelegentlich den Anschein erweckt, als halte er die DDR-Aufrüstung nur für eine Reaktion auf westliches Verhalten (S. 2, 11), oder die Berliner Blockade sei eine bloße Antwort auf die westliche Politik gewesen (S. 5), und direkt abstrus ist die Behauptung, es gäbe 'gewisse Parallelen zu den Intentionen der regierenden CDU in der Bundesrepublik' (S. 15). Auch sonst gibt es unbedachte Zungenschläge: Der 'Volksrat' in der DDR wurde 1949 natürlich nie 'gewählt' (S. 6); ob man es als 'schüren' bezeichnen sollte, wenn der RIAS über den Aufstand berichtete (S. 64) bedeutet, daß man sich ungewollt dem Nachrichtenmonopol der totalitären Partei beugt; und die Volkpolizei als 'Schutzmacht' zu bezeichnen (S. 70) führt auch wohl eher in die Irre; schließlich lag der Ost-West-Konflikt nicht an unterschiedlichen 'Gesellschaftssystemen' oder 'gesellschaftlichen Veränderungen' (S. X, 5), sondern an politischem Verhalten ' aber diese Verwechslung teilt der Autor mit vielen anderen.
Um vollends zu zeigen, daß der Rezensent genau gelesen hat, noch einige weitere Quisquilien (gelegentliche sprachliche Schnitzer sollen unerwähnt bleiben): Die KVP war nicht in 'Khaki' (S. 30, 132) gekleidet, sondern in Schmutzigbraun und konnte nur deshalb als 'nachgemachte Russen' bezeichnet werden (sonst hätte man von nachgemachten Briten sprechen müssen); nicht die 'DDR-Fahne' wurde vom Brandenburger Tor geholt (S. 70), sondern die Rote Fahne; in Magdeburg wurde nicht am 'Hasenbachplatz', sondern am Hasselbachplatz demonstriert; und die 'Freiheitlichen Juristen' hießen nicht 'Vereinigung' (S. 200), sondern 'Untersuchungsausschuß'. Gleichwohl, es sei wiederholt: Insbesondere wegen des militärischen Aspekts handelt es sich um ein wertvolles Buch.
Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit steht im Mittelpunkt von Fricke/Engelmann 2003, eine Betrachtungsweise, die sonst eher vernachlässigt wurde, weil man meinte, daß die Staatssicherheit versagt habe. Hier wird jedoch, wieder unter Darstellung der Abläufe im ganzen, gezeigt, daß das MfS zwar vom Aufstand überrascht war, daß es sich aber doch schnell gefangen hatte und durchaus in der Lage war, zur Unterdrückung beizutragen. Ein Gesichtspunkt ist von allgemeinerem Interesse. Bisweilen herrscht die Vorstellung, daß der SED-Sicherheitsapparat sozusagen aus kalten Machiavellisten bestanden habe, die auf Grund von nüchternen Analysen die Unterdrückung organisierten. Im Fall der Aufarbeitung des 17. Juni stellt sich aber heraus, daß auch das MfS von den politischen Vorgaben der Partei abhängig war, die den 17. Juni als faschistischen Putsch erklärt wissen wollte. Da er das nun nicht war, war es für die Staatssicherheit objektiv schwierig, auf Grund dieser falschen Prämisse zu richtigen Schlußfolgerungen zu kommen. Sozusagen von der anderen Seite her erschütternd ist ein Dokument der westlichen Spionageorganisation Gehlen vom 20. Juni, aus dem hervorgeht, daß man gemeint hatte, beim 17. Juni handelte es sich 'um von östlicher Seite inszenierte Aktionen' (S. 269)!
Ein reiner Arbeiteraufstand war der 17. Juni nicht, aber er ging von Arbeitern aus und bestand zu einem wesentlichen Teil aus Streikaktionen. Es hätte daher schon längst nahegelegen, die Rolle der Gewerkschaft, des FDGB, beim 17. Juni zu untersuchen. Das ist nun durch Wilke 2004 geschehen. Der Wert des Buches besteht unter anderem darin, daß es auf zahlreichen neugefundenen Dokumenten beruht, die durch einen fortlaufenden Text verbunden werden. Natürlich überrascht es nicht, daß die Gewerkschaftsführung ' die wie die politische ja nie gewählt worden war ' ihrer Rolle als Transmissionsriemen der Partei gerecht zu werden versuchte, die ihrerseits die sowjetischen Instruktionen ausführte, und wenn auch mühsam versuchte, die Arbeiterklasse zu bändigen und zu zähmen. Anders war es glücklicherweise in den Betrieben, wo die ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre natürlich mehrheitlich zu den Streikenden gehörten. Besonders interessant sind 17 Telegramme des sowjetischen Hochkommissars Semjonow nach Moskau, von denen eines hervorgehoben sei, in dem wahrheitsgemäß nach Moskau gemeldet wurde, daß der RIAS dazu aufgerufen habe, 'sich den sowjetischen Organen zu beugen und es nicht zu Zusammenstößen mit sowjetischen Truppen kommen zu lassen' (S. 160). Das sei zu der Behauptung hervorgehoben, der RIAS habe den Aufstand 'geschürt'. Das Gegenteil war der Fall.
Eine knappe Übersicht bietet Steininger 2003, dessen positives Charakteristikum allerdings darin besteht, trotz dieser Knappheit auch durch Dokumente ausdrücklich die Linie zum Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 zu ziehen. Der Sammelband Mählert 2003 schließlich fällt insofern aus dem bisherigen Rahmen heraus, als er den Aufstand aus der Perspektive einer Partei, nämlich der SPD schildert. Die Beiträge des ersten Teils betreffen den Verlauf des Aufstandes in den einzelnen Regionen ' eher amüsant die versehentliche Benennung des Hallenser Zuchthauses als 'Roter Oktober' statt 'Roter Ochse' (S. 144) ' , der zweite führt den sozialdemokratischen Widerstand vorwiegend durch Kurzporträts vor, und zum Schluß wird über die westdeutsche 'Verarbeitung' des Aufstandes geschrieben. Die Faktenbasis und auch die Interpretation sind ohne Fehl und Tadel, nur merkt man manchen Beiträgen an, daß es nicht so ganz einfach war, die in dem Buch vertretene zutreffende Ansicht über den Aufstand mit der späteren Politik der SPD gegenüber der DDR in Einklang zu bringen. Das klingt dann manchmal gequält-undeutlich, so, wenn es von einem ehemaligen Sozialdemokraten heißt: 'Seine Mitgliedschaft in der SPD beendete er im Zuge der Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei während der 70er Jahre.' (S. 193) Wenn Klartext gesprochen worden wäre, müßte der etwa so lauten: Er trat aus Protest gegen die Politik der SPD gegenüber der DDR aus der Partei aus.
Höchst bemerkenswert ist schließlich Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert 2004. Die Autoren hatten sich die wahrhaft herkulische Aufgabe gestellt, nicht den 17. Juni selber, sondern seine Bedeutung für die deutsche Geschichte und in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung des Aufstandes zu unterschiedlichen Zeiten und durch unterschiedliche Gruppen zum Thema zu machen. Und herkulisch ist das Buch schon vom äußeren Umfang ausgefallen: Mit 847 Seiten ist es das weitaus dickste. Der Aufwand hat sich aber gelohnt, und die etwas bängliche Frage ist nur, ob die enzyklopädische Fülle des Textes nicht verhindert, daß das Buch so intensiv zur Kenntnis genommen wird, wie es das verdient hat. Daher seien zunächst einmal die Gegenstandsbereiche vorgestellt, die abgehandelt werden.
Die Einführung berichtet zunächst vom persönlichen Verhältnis der drei sämtlich aus der DDR stammenden Autoren zum Gegenstand, resümiert dann die einzelnen Kapitel und gibt schließlich eine kurze Übersicht über den Aufstand selber. Das erste Kapitel dann stellt den 17. Juni in die lange Reihe der 'Aufstände gegen den sowjetischen Kommunismus', einschließlich der auf ihn folgenden bis zur endgültigen Abschüttelung des Kommunismus im Jahr 1991. Zunächst werden sie in ihrem historischen Ablauf berichtet, dann folgt die Darstellung ihrer theoretischen Erfassung durch den Totalitarismusbegriff und schließlich werden im einzelnen die Revolutionen von 1953 und die von 1989 in Deutschland miteinander verglichen. Hier schon werden ständig zwei Gesichtspunkte variiert, die das ganze Buch durchziehen und die auch den Titel des Buches ausmachen: Der 17. Juni hatte, wie die anderen Aufstände auch, revolutionären Charakter, und die westliche freie Gesellschaft hat in der Wahrnehmung und Bewertung des 17. Juni wie eben auch der kommunistischen Herrschaft insgesamt versagt. In beidem ist den Autoren mit Modifikationen aber insgesamt vorbehaltlos Recht zu geben. Dazu im folgenden mehr.
Das zweite Kapitel stellt ausführlich die wenn auch in unterschiedlicher Intensität aber doch immer wache Angst des SED-Regimes vor einem etwaigen weiteren Aufbegehren von Arbeiterschaft und Volk dar. Einerseits geschah das direkt durch extrem starken Ausbau der verschiedenen Formen des Sicherheitsapparats ' dazu hätte übrigens auch die Mauer erwähnt werden können, denn sie gehört genau dazu ' , andererseits durch die wegen der Unfähigkeit der Kommunisten letztlich immer vergeblich gebliebenen Versuche einer materiellen Ruhigstellung, und auch hier hätte noch etwas hinzugefügt werden können, nämlich die Furcht vor der Ansteckung durch die polnische Freiheitsbewegung. Das dritte Kapitel behandelt die Rolle der Erinnerung an den 17. Juni in der DDR-Opposition und im inneren Widerstand, die teils direkt, vorwiegend aber sofern indirekt war, als entweder taktische Gründe Vorsicht geboten oder der Widerstand sich unmittelbar aus anderen Quellen speiste, die allerdings demselben Freiheitsimpuls entsprangen wie der 17. Juni.
Im vierten Kapitel wird die Rolle des 17. Juni in offiziellen DDR-Verlautbarungen einschließlich der Geschichtswissenschaft jeweils im Wandel der Jahrzehnte skizziert. Zwei Folgerungen ergeben sich für den Leser: Zum einen war es per definitionem ausgeschlossen, daß man sich wahrheitsgemäß äußerte, denn dann wäre es um die SED-Herrschaft geschehen gewesen, und zum anderen zeigt insbesondere die Behandlung des 17. Juni durch DDR-Historiker, daß das, was diese vertraten, eben keine Wissenschaft war. Eine jüngere Forscherin berichtete mir mündlich, ihr wissenschaftlicher Mentor habe ihr, als sie ihn einmal entsetzt auf die Unwahrheiten ansprach, die er über den 17. Juni verbreitete, geantwortet: 'Eines müssen Sie sich merken, wir Historiker sind keine Wahrheitsapostel.'
Für einen Westdeutschen kann das fünfte Kapitel nur mit, es sei wiederholt, Scham zur Kenntnis genommen werden. Es behandelt die westdeutsche 17. Juni-Rezeption in Politik, Wissenschaft und Publizistik. Nach einem elementaren Aufflammen in der ersten Zeit nach dem Aufstand geriet er immer mehr in vermeintliche Bedeutungslosigkeit, ja wurde sogar zu einem 'Fremdkörper in der Entspannungspolitik'. Was die westdeutsche Geschichtswissenschaft betrifft, so stand sie insgesamt, wenn auch glücklicherweise in sehr verschiedener Akzentsetzung, doch unter dem Eindruck des Scheiterns des Aufstandes und tat das, was sie gerne den Historikern anderer Epochen vorwirft: Sie paßte sich an. Aktive antikommunistische Gruppen im Westen nach dem Aufstand werden im sechsten Kapitel dargestellt, wegen mancher Methoden und wegen teilweiser Unterwanderung durch die Staatssicherheit ein ziemlich beklemmendes Kapitel.
Außerordentlich eindrucksvoll ist die Darstellung der Rolle des 17. Juni in der DDR- und westdeutschen Literatur des siebenten Kapitels. Das ist vor allem in den Passagen über die DDR-Literatur festzustellen, die, natürlich ohne wohlfeile Glättungen, eine große Variationsbreite innerhalb des von der Partei Erlaubten zeigt. Ähnliches wird für die in den Westen gegangenen Schriftsteller gesagt, obwohl einigen noch 'die typischen DDR-Deutungsmuster wie nasser Lehm an den Sohlen' klebten (S. 628). Erfreulich ist immerhin das Ausmaß, mit dem die westdeutsche Literaturwissenschaft das Thema bearbeitet hat, aber mit Schweigen übergeht man am besten die westdeutsche Literatur, und zwar eben deshalb, weil sie, mit wenigen Ausnahmen, schwieg. Das letzte, achte Kapitel behandelt in großer Breite die Situation nach 1989, die einen wahren Boom an Arbeiten und Gedenken aller Art hervorgebracht hat. Das soll hier nicht mehr im einzelnen nachgezeichnet werden; statt dessen mögen vor der Gesamtwertung einige punktuelle Bemerkungen am Platze sein.
Der Mangel an 'freiheitlicher Reflexion' im westlichen Deutschland führt zu der deprimierenden weil zutreffenden Bemerkung, die DDR-Oppositionellen 'konnten von den westdeutschen Intellektuellen nichts lernen. Hätten sie es getan, hätten sie sich selbst aufgeben müssen.' (S. 74) Das 'dramatische Versagen der westlichen, insbesondere der westdeutschen Kommunismusforschung' wird zutreffend daraus erklärt, daß es 'möglicherweise … auf einer ideologisch bestimmten Akzeptanz oder auch Sympathie gegenüber dem kommunistischen Modell' beruhte, 'die die vom Kommunismus betroffenen Intellektuellen längst überwunden hatten' (S. 82). Erfrischend ist zu lesen, daß der 'Rote Oktober' (der wirkliche, anders als oben) als 'bolschewistischer Militärputsch in Petrograd' charakterisiert wird (S. 131). In der Kirche habe es 'eine nennenswerte Widerstandstradition' nicht gegeben; sie hätte sich auf die 'schlimmen Erfahrungen in den fünfziger Jahren' berufen können, aber sie 'ging in der kirchlichen Diplomatie unter' (S. 278). Wenn gefordert wird, der 'kompromißlose demokratische Antikommunismus' sei immer noch eine 'Zukunftsaufgabe' (S. 588), dann sei hiermit an den großen Melvin J. Lasky erinnert, der genau dieses verkörperte, ohne im mindesten Abstriche an Liberalität und Demokratie zu machen.
Gewiß ' manchmal schießen die Autoren mit der Schärfe ihrer Formulierungen und auch Wertungen über das Ziel hinaus. So ist es einfach unzutreffend, Arnulf Barings Buch über den 17. Juni deshalb zu tadeln, weil er den Aufstand als einen Arbeiteraufstand charakterisiert hatte und damit angeblich sozusagen nach links abgedriftet sei. Wenn denn schon die Tendenz und weniger der konkrete Inhalt von Büchern beurteilt werden soll, dann verkennen die Autoren gerade bei diesem Buch eine Zielrichtung, die ihnen eigentlich hätte zusagen müssen. Die Charakterisierung des 17. Juni als Arbeiteraufstand traf ja mitten ins Herz der Propaganda einer angeblichen Arbeiterregierung und war wohl auch so gedacht. Richtig aber ist natürlich die Charakterisierung als Volksaufstand, der freilich von Arbeitern ausging und großenteils aus Streikaktionen bestand. Darüber besteht jetzt Einigkeit, und bei dieser Wertung dürfte es bleiben. Richtig ist auch, den revolutionären Charakter des Aufstandes zu betonen, und die gelegentliche mißvergnügte Kritik an diesem Buch, die das bestreitet, verdient genau den Vorwurf selber, den sie unberechtigterweise dem Buch von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert macht, nämlich mit dem Buch entgegen der historischen Wahrheit etwas bewirken zu wollen.
Bewirken freilich soll das Buch etwas, und das ist das, was in der Tat ein Ziel ist, das so berechtigt ist, daß eigentlich allgemeiner Konsens darüber herrschen sollte, und die Frage ist nur, ob die epische Breite des Buches dazu geeignet ist. Dieses Ziel ist dasselbe, zu dem auch alle anderen hier vorgestellten Bücher beitragen wollen, nämlich den Aufstand vom 17. Juni als ein Ruhmesblatt in der freiheitlichen Tradition der deutschen Geschichte im gesamten deutschen Geschichtsbewußtsein zu verankern. Das Strohfeuer des 50. Jahrestages hat das nicht bewirkt. Lethargie und Desinteresse sind bisher stärker gewesen. Aber was gibt es Großartigeres und Zündenderes, als die Worte, die Paul Othma, der aus dem Nichts heraus einer der Streikführer in Bitterfeld wurde, den anderen zurief und derentwegen er später zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: 'Liebe Freunde. Wenn ich heute Eure strahlenden Gesichter sehe, dann möchte ich Euch am liebsten umarmen und an mein Herz drücken. Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.' (Knabe 2003, S. 211)