An Büchern über den Zweiten Weltkrieg, so mag man meinen, mangelt es weiß Gott nicht. Neben den unzähligen Spezialstudien sind inzwischen auch die Gesamtdarstellungen nur schwer überschaubar. Der umfangreichen Bibliothek über den Zweiten Weltkrieg fügt Nicholas Steingardt nun ein weiteres, über 800 Seiten starkes Werk hinzu. Er selbst scheint einen gewissen Rechtfertigungsdruck gespürt zu haben, begegnet dem in der Einleitung leider aber mit unnötigen (und falschen) Zuspitzungen. So macht er beispielsweise eine bis in die Gegenwart andauernde „tiefe Spaltung“ (S. 16) in der Beurteilung der Deutschen jener Zeit aus: „Deutsche gelten weiterhin entweder als Opfer oder als Täter“ (ebd.) – Grautöne, differenzierte Wahrnehmungen und Folgerungen, das wird deutlich, soll sein Buch (erstmals) bieten, zumal bislang Historiker lange Zeit etwas naiv in ihrer Einschätzung der Haltung der deutschen Gesellschaft zum NS-Regime im Krieg gewesen seien: „Historiker setzen Erfolge des Regimes mit Zustimmung und Fehlschläge mit Kritik und Opposition gleich“ (S. 23). Beispiele hierfür bleibt er schuldig, muss er auch. Solche Töne sind ärgerlich und überflüssig, aber glücklicherweise die Ausnahme.
Steingardt bietet eine umfassende Gesellschaftsgeschichte der Deutschen im Krieg, die sich vor allem den Ereignissen jenseits des Kampfgeschehens widmet, ohne jedoch die Eindrücke der Soldaten an der Front und in deren Hinterland und ähnliches auszusparen. Ausführlich erzählt der Autor von der für die Deutschen – folgt man ihren Tagebüchern und Briefen – zentralen Frage der Versorgung, berichtet von der auch davon abhängigen Stimmungslage im Land, von Arbeit, Kindern und Jugendlichen, Lagern, Zwangsarbeitern, der Militärjustiz, den Verbrechen im Schatten des Krieges und vielem anderen mehr.
Anhand zahlreicher Selbstzeugnisse wie Briefen und Tagebüchern nimmt er die Sorgen und Hoffnungen, die Ängste und Träume von Menschen vieler Schichten in den Blick und kann so anschaulich die Themenpalette vor dem Leser ausbreiten – bis hin zur eindrücklichen Darstellung von sexuellen Nöten durch häufige Trennung der (Ehe)paare durch Fronteinsätze und Kriegsdienst und der damit im Zusammenhang stehenden Zwangsprostitution in allen deutsch besetzten Ländern und Regionen. Auch die bereits aus anderen Kontexten bekannte private Ausplünderung der besetzten Territorien fehlt nicht.
Gekonnt bettet Steingardt erschütternde Details anschaulich in die Gesamtgeschichte ein und zeigt daran sowohl Allgemeingültiges als auch Besonderes. Etwa im Fall der Hinrichtung von 20 polnischen Zwangsarbeitern im thüringischen Hildburghausen, der 1000 Schaulustige beiwohnen. Überdies mussten noch 600 bis 700 Frauen und Kindern von der Polizei am Gaffen gehindert werden. So plastisch Stargardt diese Schilderung auch gelingt, so sehr misslingt seine Erklärung für dieses Phänomen. Die Region, so argumentiert er, habe sich schon früh zum Nationalsozialismus bekannt, die Deutschen Christen seien besonders stark und daher habe es keine Institutionen gegeben, „die eine kritische Sicht unterstützt hätten“ (S. 181). Doch wo, so fragt man sich, hat es eine solche Institution (oder gleich mehrere) überhaupt im Krieg gegeben?
Dass die beiden Amtskirchen diese Rolle nicht erfüllten, zeigt sich einmal mehr am Beispiel der sogenannten Euthanasie-Morde. Kritik oder gar Protest dagegen erhoben sich nur vereinzelt und – sieht man von wenigen Gegenbeispielen ab – hinter den Kulissen abseits einer Öffentlichkeit. Und auch Gegenstimmen wie die von Bischof von Galen verstummten, als das Regime im Sommer 1941 scheinbar das Morden in den Anstalten einstellte, tatsächlich aber lediglich Verfahrensweise und Methoden änderte.
Nicholas Steingardt erzählt dies und vieles mehr immer auch am konkreten Beispiel, anschaulich und lebendig. Dabei schöpft er aus spannenden Quellen, von denen viele zwar durchaus schon bekannt sind, die er aber gekonnt zu einer breit angelegten und überzeugenden Gesellschaftsgeschichte der Deutschen im Krieg neu komponiert.