Schulunterricht in Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr.

Mündliche Überlieferung und Verschriftung sind Themen, denen in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit in den Altertumswissenschaften gegolten hat. Hierzu gehört auch die Frage, wie es um die Verbreitung der Schriftkenntnis und der Literatur in den antiken Kulturen bestellt gewesen ist. Zu all dem sind, dem Interesse entsprechend, verschiedene teils eher für Spezialisten, teils für ein breiteres Publikum bestimmte Veröffentlichungen erschienen. Drei davon sind im folgenden vorzustellen.
Schreiben können setzt Schreiben lernen voraus, und je schwieriger die Schrift, um so weniger ist deren verbreitete Kenntnis vorauszusetzen. Zu den gräko-ägyptischen Verhältnissen und mithin zu einer Alphabetschrift hat vor einigen Jahren R. Cribiore das einschlägige Material vorgelegt und zum Curriculum ausgewertet (R Cribiore: Writing, teachers, and students in Graeco-Roman Egypt, Atlanta 1996). Dem stellt P.D. Gesche mit der Druckfassung ihrer Dissertation eine Untersuchung zum Schreibunterricht im Verbreitungsgebiet der Keilschrift an die Seite. Sie beruht auf der Auswertung von rund 5.000 Tontafelfragmenten (vgl. Katalog S. 669-792 sowie Textindex S. 806-820). Rund 10% davon, alles aus dem British Museum, publiziert sie überdies, zumeist sowohl in Kopie wie in Transkription; soweit sinnvoll, gibt sie zudem eine Übersetzung bei (S. 221-667). Neben der ganzen Anlage zeugen die sauberen Kopien wie die Liste zusammengehöriger Fragmente (S. 793) plastisch von der aufgewendeten Sorgfalt. Die von dem höchst schwierigen und umfangreichen Material bereiteten ' und bewältigten ' editorischen Mühen interessieren in diesem Rahmen freilich weniger als die Auswertung der gesichteten Texte (S. 1-220). Dazu skizziert Gesche einleitend das kulturelle Umfeld der Schule und deren Bildungsziel. Das plastische Resümee der schulischen Gegebenheiten im alten Orient ab der Entwicklung der Schrift bis zur neubabylonischen Zeit unterstreicht, wieviel mehr an Einzelheiten zum Curriculum eine minutiöse, wohldefinierende und auf dieses Thema ausgerichtete Analyse zu erbringen vermag gegenüber durchaus scharfsinnigen Bemerkungen anläßlich der Edition vereinzelter Texte. Der schlechte Erhaltungszustand des Materials und die Mängel von Schülerschriften lassen sich aber am ehesten, so zeigt Gesche überzeugend, über eine profunde Konzentration auf eine Vielzahl einschlägiger Quellen überwinden. Das Ergebnis setzt nicht nur Maßstäbe für die weitere Erschließung derartiger Quellen, sondern führt anschaulich vor Augen, wie man sich den Schulbetrieb ab der Fertigung der speziellen Tafelformate über die Schulliteratur bis hin zur Didaktik und zur Fachausbildung vorzustellen hat. Gesche enthält sich zwar verallgemeinernder Wertungen, bestätigt aber den ' im einzelnen schwer zu beweisenden ' Eindruck, daß - ungeachtet der mit dem Erlernen der syllabischen Keilschrift verbundenen Schwierigkeiten - mit Schrift im gebotenen Maße umzugehen verstand, wer davon Nutzen erwartete. Gesches beispielhafte Untersuchung ist wohlformuliert, wohlerschlossen und mit den beigegebenen Tafeln sowie dem edierten Material wohldokumentiert. Obgleich gut lesbar, ist sie nach der ganzen Anlage für das Fachpublikum bestimmt. Der Blick auf R. Cribiores eher auf einen breiteren Leserkreis ausgerichtetes Buch Gymnastics of the mind: Greek education in Hellenistic and Roman Egypt (Princeton 2001) oder auf die beiden im folgenden vorgestellten Werke weckt den Wunsch nach einer entsprechenden Darstellung aus der Hand der Verfasserin: In einer Zeit, in der immer wieder gefragt wird, inwieweit 'es sich rechnet', trüge das zur Beweisführung außerhalb der Geisteswissenschaften bei, daß Wissensvermittlung der Wissensermittlung bedarf.
Hochkultur ist mit Verschriftung verbunden, und die Schrift hat von vorne herein und in erster Linie so prosaischen Zwecken wie Administration, Kommunikation und Rechtswesen gedient, denn derentwegen ist sie erfunden worden. Naturgemäß wurde ein derart vielseitig verwendbares Medium bald nach seiner Erfindung dazu benützt, neben der Realität auch Gedanken zu bewahren und darüber hinaus, im Zusammenhang mit der religiösen Sphäre, gedachte Realität. Der menschliche Sammeltrieb sorgte bereits früh dafür, daß Schriftzeugnisse angehäuft wurden und heute, soweit sie im Boden wiederentdeckt oder ihr Inhalt bewahrt wurde, von den geschichtlichen Hochkulturen künden. Ein Aspekt von all dem ist das Sammeln und der Gebrauch von Literatur, und in diese Zusammenhänge führt L. Casson umfassend, detailliert, belesen, eloquent, zurückhaltend ' gekonnt ein. Er beginnt mit den Anfängen der Schrift im Vorderen Orient und den Funden an keilschriftlichen Bibliotheksbeständen. Als nächstes beleuchtet er das Buch- und Bibliothekswesen im klassischen Griechenland bis in die Anfänge des Hellenismus und diese Epoche selbst anhand der öffentlichen Bibliotheken von Alexandria, Antiochia und Pergamon sowie unter Berücksichtigung der Hinweise auf lokale und private Bücherbestände. Hierbei zeigt er, daß lokale Bibliotheken ihr Dasein den Stiftungen reicher Bürger verdankten, und das fügt sich bestens in den auch sonst bezeugten Euergetismus jener Epoche. In gleicher Weise werden Rom und seine Provinzen bibliotheks- und buchbezogen dargestellt. Eingehende Blicke erlauben die Quellen dabei nur zur Stadt Rom, aber wie für die griechisch geprägte östliche Mittelmeerwelt führt Casson unter Auswertung der literarischen Nachrichten plastisch vor Augen, wie öffentliche und private Bibliotheken eingerichtet und benutzt wurden. Seiner auf kärgliche Belege gestützten Schlußfolgerung, im Westen des römischen Reiches sei es letztlich nicht anders gewesen, wird sich kein Leser verschließen. Ausonius mit seiner Mosela und seiner Bisulae wäre ein nennbarer Zeuge, daß nur die Fundlage die Situation im römischen Westen nicht zu erfassen erlaubt. Gnädig zeichnet Casson die Spätzeit. Wieviel Bigotterie vernichten kann, verdeutlicht ein S. 183 wiedergegebener islamischer Zerstörungsbefehl. Wieviel an antiker Überlieferung christlicher Fundamentalismus vergessen ließ oder zerstört hat, kann man Cassons Darstellung nur zwischen den Zeilen entnehmen.
Der Band ist gelungen, auch wenn sich einige Kleinigkeiten anmerken lassen. Beispielsweise wird Keilschrift nicht eingeritzt, sondern eingedrückt (S. 12); die Erläuterung zu Illyrien als 'heutiges Jugoslawien' (S. 102) war nie genau und ist heutzutage nicht mehr aktuell; zur römischen Bibliotheksarchitektur (S. 114f.) ist auf den im folgenden angezeigten Band zu verweisen; eine Terminologie wie 'Finanzinspektor in Alexandria' (für procurator ... ad dioecesin Alexandreae), 'Korrespondenzsekretär' (für ab epistulis graecis) und 'Testamentsnotar' (für procurator hereditatium) (S. 131f. zu CIL III 431) ist eine verwirrende Eindeutschung; die abgebildete 'Hölzerne Schreibtafel mit 10 Blättern' ist ein Wachstafelheft oder -kodex (S. 169); die Quellenübersetzungen scheinen frei und nicht am Originaltext vorgenommen zu sein. Eine Anregung für die wünschenswerten kommenden Auflagen sei erwogen. Casson überfordert den gebildeten Leser keineswegs, denn er erläutert immer wieder die Hintergründe. Man kann sein Werk deshalb ohne weiteres als hinreichende Information verstehen. Mancher Leser aber wird sich ein Mehr an Erläuterung zu Geschichte, Literatur und Namen wünschen. Dieser Wunsch ist umso eher am Platz, als Casson dem korrekten ' in Werken aus dem angloamerikanischen Raum allerdings nicht selbstverständlichen ' Brauch folgt, wissenschaftliche Arbeiten unabhängig von ihrer Sprache heranzuziehen. In einem populärwissenschaftlichen Buch von Rang, wie es das vorliegende ist, sollte dieser für manchen Leser beschwerliche Vorzug durch redaktionelle Notizen ausgeglichen werden. Hervorzuheben ist abschließend, daß die einfachen Schwarz-Weiß-Illustrationen den kleinen Band gelungen illustrieren.
Anschaulichkeit ist ein Prinzip, welches sowohl die Zeitschrift Antike Welt wie deren Beihefte bzw. Sonderbände seit jeher kennzeichnet und ebenso Zaberns Bildbände zur Archäologie. In dem Band Antike Bibliotheken führen 21 Beiträge und 170 Abbildungen, miteinander verflochten und einander illustrierend, sozusagen die kulturtechnische Seite des Buchbesitzes in der Antike vor Augen. Es geht nicht einfach um das Konservieren von Geschriebenem, sondern vor allem um das repräsentative Aufbewahren literarischer Werke. Der abschließende Blick in die 'Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar' (A. Alvers) samt der Abbildung der von J.W. von Goethe linksunterzeichneten Bibliotheksordnung runden diese Betrachtungsweise anschaulich ab. Der Titel des Bandes ist exemplarisch und beschränkend zu verstehen: Es geht um die Antike im Sinne der griechisch-hellenistisch geprägten Kulturwelt. Die besser erhaltenen Bibliotheken der römischen Kaiserzeit dienen vor allem als Hilfsmittel, um die allgemeinen Gestaltungsprinzipien zu rekonstruieren. Es geht nicht um das Bibliothekswesen, sondern um repräsentative Beispiele. Es geht um Literatur, und folglich bleibt undeutlich, daß rund 90% der erhaltenen Schriftzeugnisse administrativer, rechtlicher oder wirtschaftlicher Natur sind. Und es geht vor allem um öffentliche Bibliotheken. Des privaten Buchbestands wird nur dann gedacht, wenn er einem Lebensstil entspringt, der über bloßen Literaturbesitz hinausgeht. Der Blickwinkel wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß der Band letztlich auf ein Seminar über griechische Bibliotheken am Institut für Klassische Archäologie der Freien Universität Berlin zurückgeht, welches zu einer Ausstellung '7 Bibliotheken' in der Abguß-Sammlung Antiker Plastik in Berlin-Charlottenburg im Sommer 2000 geführt hat. Erwähnenswert ist, daß mehrere der Beiträge von Seminarteilnehmern stammen.
Innerhalb des gesteckten Rahmens ist das gebotene Bild recht bunt und vielfältig. Antike Schriftträger von praktischer Bedeutung werden vor Augen geführt, vor allem der Papyrus, der verbreitetste der im Alltag der antiken Mittelmeerwelt gebräuchlichen Schriftträger. Ihm gelten Bemerkungen zur Restaurierung und Aufbewahrung sowie zur Illustrierung und Verwendung; weitere skizzieren das antike Buch- und Literaturwesen. Hierzu darf man auch die eingehenden Erwägungen zum Schicksal der Bibliotheken des Aristoteles und der Peripathetiker und der Bibliothek zu Alexandria rechnen. Breiten Raum nehmen die Ausführungen zu den archäologischen Befunden von Bibliotheken (möglicherweise) entsprechenden Gebäuderesten in Athen, Ephesos, Nysa, Pergamon, Rhodos und Rom ein. Daneben werden (repräsentative) Bibliotheken in Privathäusern und Palästen vorgestellt. Bei all dem werden auch archäologische Neubewertungen vorgetragen. Der Nachbau griechischer Bibliotheksmöbel führt in die experimentelle Archäologie; die Nachbauten selbst sind breiteren Kreisen inzwischen im Rahmen der Ausstellung 'Die Griechische Klassik ' Idee oder Wirklichkeit' bekannt geworden.
Der anschaulich und interessant gestaltete Band hätte jedoch durch die stärkere Berücksichtigung der epigraphischen, papyrologischen und rechtshistorischen Belange an Brauchbarkeit und Lebensnähe gewonnen. Dem Ursprung im genuin archäologischen Kernbereich ist nämlich offensichtlich zu verdanken, daß der Bedeutung der Literatur im privaten Alltag so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Betont wird vielmehr, daß der Besitz von Büchern zu allen Zeiten eine Sache des Prestiges gewesen sei. Die Quellen aus dem Wüstensand Ägyptens sprechen da eine andere Sprache. Der Besitz von Literatur war verbreitet (vgl. J. Krüger: Oxyrhynchos in der Kaiserzeit. Studien zur Topographie und Literaturrezeption, Frankfurt/M. u.a. 1990); sie wurde gelesen und zitiert. Man listete Vorhandenes auf und bat um Rückgabe von Entliehenem. Auf Äußerlichkeiten kam es im privaten Bereich durchaus nicht an, und deshalb finden sich Pindars Paeanen auf der Rückseite eines ausgedienten Steuerregisters (s. R.S. Bagnall / B.W. Frier / I.C. Rutherford: The Census Register P. Oxy. 984: The Reverse of Pindar's Paeans, Bruxelles 1997) oder ein Sappho-Gedicht auf einem Tonscherben (PSI XIII 1300; Abb. a.a.O. Tav. II), und der Kodex mit einer umfangreichen landwirtschaftlichen Buchführung lag neben dem Kodex mit einem Werk des attischen Redenschreibers Isokrates (s. R.S. Bagnall [Hg.]: The Kellis Agricultural Account Book, Oxford 1997, und K.A. Worp / A. Rijksbaron: The Kellis Isokrates Codex, Oxford 1997).
Der Blickwinkel hat einige Flüchtigkeiten im außerarchäologischen Kontext zur Folge. So werden für das 7. vorchristliche Jahrhundert öffentliche Archive als Aufbewahrungsort von Gesetzeswerken postuliert (S. 3), für eine Zeit mithin, aus der es an Zeugnissen für entsprechende, vor allem umfangreiche Kodifikationen durchaus mangelt. Selbst wenn das Archiv- und Registerwesen mit Literatur nichts zu tun hat, hätte es eingehender und zutreffender erwähnt werden dürfen (unzulänglich S. 30); die Affinität zwischen der Aufbewahrung von Literatur und der von Urkunden unterstreicht die Verwendung des Begriffs bibliothéke für Einrichtungen der Urkundenarchivierung in Ägypten. Papyrus ist kein Geflecht (S. 3), sondern besteht aus zwei Schichten von Streifen; die Pflanze wächst in Ägypten (S. 9) heute nur noch kultiviert für Andenkenartikel (vgl. bereits Th. Heyerdal: Expedition RA, Gütersloh u.a. 1971, S. 77ff.). 'Kodex aus Platten', dessen Volumen die Gebrauchsmöglichkeiten mindert, (S. 3) meint wohl das Wachstafelheft, welches beispielsweise der stehende Schüler auf Abb. 17 (die Abb. ist seitenverkehrt; die Identifizierung von Abb. 14 als Bild eines Rechtsgelehrten findet sich zwar auch anderwärts, entbehrt aber der Grundlage) mit sich führt. Der bereits erwähnte Isokrates-Kodex aus Kellis (Oase von Dachleh) zeigt, daß ein literarischer Gebrauch nicht ausgeschlossen war. Freilich: In der Oase war Holz verfügbar und billig; im Niltal war es günstiger, Papyrus zu verwenden. Illustrationen sind in der Tat weniger zahlreich erhalten (S. 14), aber das ist angesichts des erwähnten Charakters der erhaltenen Schriftzeugnisse nicht verwunderlich. Daß es an Abbildungen nicht gemangelt haben kann, lassen schon die vielen Werkstattzeichnungen auf Kalkstein-Ostraka aus dem pharaonischen Ägypten ahnen. Aber auch auf Papyrus mehrt sich das publizierte Material. Es geht bei weitem über vereinzelte Kritzeleien oder Skizzen zu mathematischen Aufgaben hinaus. Den möglichen Grad an Illustration läßt ' neben S. 14f. und dem prachtvollen hinteren Vorsatzblatt ' eine 250 cm lange Papyrusrolle erkennen, welche die Abschrift eines geographischen Textes enthält, in dem Freiräume für Landkarten ausgespart sind. Im ersten Freiraum ist auch eine Karte ausgeführt worden. Dann aber wurde die Arbeit verworfen. Im Rahmen einer ersten Wiederverwendung wurde die Rückseite für Tierskizzen verwendet und später Porträts und Skizzen menschlicher Köpfe und von Körperteilen auf die Vorderseite gezeichnet. Kulturgeschichte, dies unterstreicht der vorliegende, prachtvolle und ausgezeichnet zu lesende Band, ist eine interdisziplinäre Aufgabe.