Geschichte der Sintflut
Auf den Spuren der frühen Zivilisationen

Gut dreieinhalb Jahrtausende vor dem Beginn der ägyptischen und der mesopotamischen Hochkulturen, um 6700 v.Chr. ' so haben geologische Forschungen vor einigen Jahren ergeben ' brach ein Sandsteinriegel, der zuvor das salzige Mittel- und Marmarameer von einem heute als 'Euxinos-See' bezeichneten, um 70 Meter tiefer gelegenen, riesigen Süßwasserbecken getrennt hatte. Ungeheuere Fluten begannen, sich in das Becken zu ergießen und weite Uferflächen auf Dauer im Wasser verschwinden zu lassen. Neben der Entstehung des Schwarzen Meers waren die Folgen eine ab 6200 v. Chr. einsetzende 'Mini-Eiszeit' und eine starke Erwärmung um 5800 v. Chr. Die Lebenswelt der Menschen jener Epoche veränderte sich damit großräumig drastisch. H. Haarmann, nimmt dieses Geschehen zum Ausgangspunkt einer umfassenden Darstellung der um diese Zeit einsetzenden kulturellen Entwicklung. Sein Blick auf die literarischen und (erst mit der Renaissance einsetzenden) bildlichen Schilderungen der Sintflut (S. 20-30) stimmt auf seine Sichtweise ein: Das kulturelle Gedächtnis früher Zivilisationen reicht zeitlich und räumlich weit, und dementsprechend sind der Verbreitung zivilisatorischer Errungenschaften nahezu keine Schranken gesetzt. Haarmanns Hauptgedanke ist, daß die bis heute sich auswirkenden kulturellen Entwicklungen im Donauraum ihren Ausgangspunkt nahmen, den Vorderen Orient befruchteten und in neuer Qualität in den Okzident zurückkehrten. Maßgebend hierfür sind vor allem sprachwissenschaftliche Analysen (aus denen Rückschlüsse auf den Kulturgutbestand längst vergangener vorgeschichtlicher Völkerschaften gezogen werden), Umdatierungen archäologischer Befunde (aus denen sich ein höheres Alter der alteuropäischen Zivilisationen ergibt), und der Vergleich von Artefakten (vor allem von Schriftzeichen) sowie Analogieschlüsse; alles zusammen erlaubt die Annahme von Übernahmen und Abhängigkeiten. Haarmann entwirft auf diese Weise ein überwältigendes Panoptikum: Bereits um 7000 v. Chr. haben Gruppen der nicht-indoeuropäischen Jäger und Sammler Südosteuropas agrarische Lebensweisen angenommen; städtische Siedlungen lassen sich fassen. Um die Mitte des 5. Jt. v. Chr. beginnen die Wanderungen der aus dem Don-Wolga-Raum stammenden Indoeuropäer, und in der Mitte des 4. Jt. v. Chr. sind Indogermannen im Balkanraum faßbar, welche nicht nur die seßhafte Wirtschaftsform angenommen, sondern auch eine hohe Kultur entwickelt haben. Symbiose von Alteingesessenen und Einwanderern ist anzunehmen; bereits die Alteuropäer kennen den Gebrauch und die Verarbeitung von Metall. In der Religion dominiert eine weiträumig und bis in die Römerzeit faßbare 'Große Göttin'. Die ältesten Schriftzeichen aufweisenden Objekte der (vor-indoeuropäischen) 'Donauzivilisation' entstammen der 2. Hälfte des 6. Jt. und sind religiösen Zwecken bestimmt (u.a. S. 103). In der Folge kommt es u.a. zum Schriftexport in die Mittelmeerwelt und den Vorderen Orient; und praktisch alle Kulturen der Alten Welt bis ins westliche Mittelmeer zeigen Einflußspuren. Bei der Schrift wird der ursprüngliche Zeichenbestand 'steinbruchartig' ausgeschlachtet, so daß alle späteren Zeichenbestände vereinzelte Ursprungszeichen aufweisen. Die frühen Kulturen zeichnen sich im übrigen durch eine Gleichrangigkeit der Geschlechter und eine ökumenisch statt hierarchisch bestimmte Gliederung des Gemeinwesens aus.
Auf den ersten Blick scheint diese eine Fülle an Einzelheiten verarbeitende Gesamtschau epochenübergreifender zivilisatorischer Entwicklung Werken wie C.W. Cerams Geschichte der Ägyptologie bzw. der Hethitologie 'Götter, Gräber und Gelehrte' und 'Enge Schlucht und Schwarzer Berg' beigesellen zu sein. Man kann Haarmanns Bild in der Tat so sehen und sich mit einer spannenden Lektüre begnügen. Erst die eingehendere Betrachtung führt zu einem ambivalenten Urteil über ein in mannigfacher Hinsicht ambivalentes Werk. Die Gesamtschau besticht unbedingt, aber unter verschiedenen Blickwinkeln zeigen sich Kehrseiten: Ceram hat Jahrzehnte nach der unangefochtenen Etablierung von Ägyptologie und Hethitologie Wissenschaftsgeschichte für ein breiteres Publikum geschrieben. Haarmann hingegen schreibt die Geschichte und Wirkungsgeschichte einer Entwicklung, die im wesentlichen erst im Laufe der letzten knapp drei Jahrzehnte (vgl. die Daten des Literaturverzeichnisses) ins Blickfeld geraten und wissenschaftlich noch keineswegs ausdiskutiert ist. Immer wieder wird auf entgegenstehende 'traditionelle' Sichtweisen verwiesen, und Haarmann ' von Haus aus Sprachwissenschaftler ' ist dabei Partei. Er umreißt nicht nur die wissenschaftliche Diskussion, sondern er führt sie in Marginalien weiter. Allzu leicht gerät eine Äußerung dabei zum Vorwurf und an die falsche Adresse, so die Feststellung 'Bis heute werden Ethnonyme wie 'Sumerer', 'Akkader' usw. wie nationale Etikette verwendet' (S. 180) ' wie denn nicht, wenn beispielsweise die altbabylonischen Herrscher 'Gerechtigkeit in Sumer und Akkad' gesetzt haben? Der gewählte Rahmen sorgt zudem dafür, daß das Gewicht der gegnerischen Bedenken nicht zu bewerten ist, und er beschränkt Haarmanns Werk im Vergleich zu Cerams Darstellungen auch optisch und folglich didaktisch. Der Band ist in Umfang und Gestaltung erkennbar am Maß verlegerischer Kalkulationen ausgerichtet, was Text und Bebilderung begrenzt hat. So wünschte man sich für den allgemeingebildeten Leser die ihm oft kaum nachvollziehbaren sprachwissenschaftlichen Argumente ausführlicher (z.B. S. 41, 163f., 165; das Raster der Tabelle auf S. 76 oben scheint mißglückt zu sein), die S. 112 erwähnte Rolle des 'Motivs des Nadelbaums' ist ob der Kürze der Argumentation unverständlich, 'anatolische Hieroglyphen' (S. 125) ist wohl eine Verkürzung für 'luwische Hieroglyphen /Luwoglyphen aus Anatolien', und statt des Flutfreskos aus der Sixtinischen Kapelle (S. 29) wünschte man sich Abbildungen der als Beweisstück angeführten Artefakte (z.B. S. 73, 90). Manche Grafik oder Tabelle entbehrt der nötigen Legende (so S. 66).
Der beschränkte Raum erklärt wohl auch, weshalb manches Argument wenig sorgsam ausgeführt ist. So weist die Schwarzmeerkarte S. 16 die Flachzonen des Schwarzen Meers bis 200 m aus, während eine Tiefenlinie von 85 m vom heutigen Meeresspiegel gemessen sinnvoll wäre; eine Kalkulation der Einflutdauer wäre anschaulich, und die Ufergestaltung läßt vermuten, daß den Tsunamiwellen (S. 15) wohl nur Bevölkerungsteile entkommen sein dürften, die am steilen kleinasiatischen Rand oder hinter der Barriere zum heutigen Assowschen Meer gelebt haben (vgl. S. 60). Allerdings kommt es auf all das letztlich gar nicht an, denn jene Flutkatastrophe ist zwar der plakative Aufhänger der Darstellung, hat aber auf jene zivilisatorischen Kontakte keine Auswirkungen (eine Landbrücke zwischen Europa und Asien gibt es noch heute, nur nicht am Bosporus, aber der war auch zu jener Zeit nicht unüberwindlich; vgl. S. 31, 44). Anderwärts wirken Belege aleatorisch oder eklektisch statt beispielhaft angeführt (z.B. S. 31f., 160, 174, 193) oder Argumente widersprüchlich. So wird auf S. 55 Çatal Hüyük um 6150 v. Chr. im Zusammenhang mit dem Einbruch der Kälteperiode verlassen; auf S. 71 wird die Malaria als möglicher Grund genannt, die aber mit den dort erwähnten Funden deformierter Knochen nicht zu verbinden ist. Wohl aus dem gleichen Grund wird aus 'vielleicht' schnell 'sicher', so zu Namen und Herkunft der Etrusker (S. 132f.); die Darstellung der iberischen Schriftsysteme (S. 137-139) gerät zur undokumentierten Aufzählung und Behauptung, oder eine Erwägung wird kritiklos übernommen: Über 'minoische Gesetzgeber' (S. 146) ist leicht zu spekulieren, wenn man die Frage unterdrückt, ab wann man von 'Gesetzgebung' überhaupt erst sprechen kann ' beispielsweise ist ja Hammurapis Charakter als Gesetzgeber nicht unangefochten! Einige Ausdrücke sind wohl der 'political correctness' geschuldet, so 'heiratsfähige Frauen' ( 'Mädchen'; S: 104) oder Palästina als 'ägyptische Kolonie' (S. 127). Für den Tausch von Frauen unter den Handelspartnern 'Griechen und Proto-Etrusker' (S. 132) wünscht man sich einen Beleg! 'Funktional geregelte' Zeichenverwendung (S. 105) und die Schriftentwicklung voran treibende 'kulturbeflissene Kreter' (S. 142) sind weitere Beispiele anfechtbarer Formulierungen.
Die Diskussion der chronologischen und sprachwissenschaftlichen Thesen muß den Fachorganen vorbehalten bleiben. Kurz erwähnt seien einige Bedenken zu den Gedanken einer 'Kulturdrift' der Schrift und einer mosaikartigen Zusammenstellung der Alphabetzeichen: Der Schriftgebrauch in antiken Gesellschaften läßt erkennen, daß Schriftkenntnis, -verwendung und -tradierung sich aus den Bedürfnissen des Alltags ergeben und daß Verbreitung und Erlernen wie bei anderen handwerklichen Künsten durch Autopsie geschieht. Es mag sein, daß ein religiöser Zweck genügt hat, in der alteuropäischen Kultur die Schöpfung der ersten Schrift anzuregen, selbst wenn dieser Anlaß unserem abendländischen Denken seltsam dünkt. Bei einer Alltagsfertigkeit überzeugt deren Nutzen und regt zu deren Übernehmen (bzw. die Nachricht davon zur Nacherfindung) an. Kann die Verschriftung im Umgang mit der Gottheit andernorts ebenso stimulieren? Ferner sind die Übernahme eines Zeichensatzes unter Adaptierung einzelner Zeichen auf den eigenen Phonem-Bestand oder die von der Nachricht der Schriftexistenz veranlaßte Kreation einer eigenen Schrift plausible Wege ' was aber außer dem Zufall könnte die 'steinbruchartige' (vgl. S. 142) Verwendung einzelner Zeichen in einem fremden Alphabet veranlassen?