Geritzt und entziffert
Schriftzeugnisse der römischen Informationsgesellschaft

Seit rund 5000 Jahren ist der Mensch im Besitz der Schrift. Seither haben sich große und kleine Ereignisse der Menschheitsgeschichte und des menschlichen Alltags schriftlich niedergeschlagen ' mal mehr, mal weniger ' und sind auf diese Weise ' wiederum mal mehr, mal weniger ' überliefert worden. Die Einzelheiten sind für die fernere Vergangenheit aus der Sicht einer rundum verschrifteten und in ihrer Kommunikation durch die heutigen Medien mitunter eher schon behinderten als unterstützten Gesellschaft kaum vorstellbar: Es hat eine Zeit gegeben, in der man ohne Mobiltelephon, SMS und E-Mail miteinander zu kommunizieren vermochte! Der vorliegende Band illustriert eben dies für das Römische Reich, bestens und anschaulich gegliedert, anhand von Alltagszeugnissen. Von der Anlage her geht es allerdings um den nördlich der Alpen gelegenen Teil des römischen Reiches. Die sonst üblichen Schriftträger sind in diesem Raum freilich gleichfalls in Gebrauch gewesen, und sie sind in dem Band deshalb anhand anderweitiger Beispiele berücksichtigt, selbst wenn sie sich hierzulande nicht erhalten haben.
Die 14 Abschnitte des illustrativ gestalteten und wohlkommentierten Bandes führen den Schriftgebrauch in der Antike, thematisch gegliedert und reich bebildert, bestens vor Augen: Schriftanfänge (1); Schreibmaterial und Schreibgeräte (2); Paläographie (3); Echtheitsfragen (4); Schriftverwendung beim Militär (5; 6); Namensaufschriften (7); Rechtssphäre (8); Wirtschaftsleben (9); Schulwesen (10); Kult, Magie und Aberglaube (11); menschliche Beziehungen und Schicksale (12); Küche (13); Niedergang der Schriftkultur (14). Alles in allem liegt ein höchst reizvoller Band vor, der interessierten Laien wie Anfängern entsprechender Studienrichtungen eine ausgezeichnete Einführung in die Welt der Alltagsschriftzeugnisse gewährt. Ein kleines Glossar wäre freilich hilfreich, und zu den Textzeugnissen wünschte man sich durchgängig den Nachweis der fachüblichen Bezeichnungen. Dem Eindruck strikter Wissenschaftlichkeit, den Text und Abbildungen an sich wecken, wirken die poppig gestalteten Seiten mit den Abschnittstiteln entgegen. Zweifellos soll das die Zugangsschwelle senken, aber beim ersten Blick in den Band läßt dieses Layout an ein Jugendbuch und an ein entsprechendes Text-Niveau denken ' oder werden wirklich nur Angehörige der Prä- und Proto-Comic-Periode diesen Gedanken hegen? Ein wenig mehr Sorgfalt hätte die Endredaktion bedurft (z.B. S. 23: 'Graffiti-Fälschung' ' der Singular von 'Graffiti' ist 'Graffito'; S. 47, Sp. I, Z. 6 v.o.: 'Pvileg'  'Privileg'), es finden sich einige unnötige Vereinfachungen. So verleiht die Constitutio Antoniniana keineswegs der gesamten freien Bevölkerung des römischen Reiches das römische Bürgerrecht (S. 46), jedoch ist die Einschränkung ungewiß und entsprechend umstritten; Frauen waren nicht 'offiziell vom Vertragsrecht ausgeschlossen' (S. 47), sie bedurften vielmehr zur Teilnahme am Rechtsleben eines Frauenvormundes, und das hat Frauen keineswegs gehindert, am Wirtschaftsleben teilzunehmen; und als Quelle der deutschen Übersetzung eines griechischen Textes ein englischsprachiges Werk zu nennen, ist schlechthin ärgerlich, denn man übersetzt nicht aus zweiter Hand. Ein wohlfeiler Tribut an den Zeitgeist der 'political correctness' ist ein kleiner Einschub ' 'Ist das Recht?' (S. 47): 'Bürgerrecht' ist auch heute noch ein Privileg, so steht nach dem Grundgesetz das Demonstrationsrecht nur den deutschen Staatsbürgern zu ' oder soll ein bevölkerungsreicher Staat berechtigt sein, unseren Alltag durch eine Millionendemonstration seiner Bevölkerung lahmzulegen? Legalität und Nutzen von Folter wird eben heute vehement diskutiert, und Kriegsdienstverweigerung kann sich kein Gemeinwesen leisten, welches in der Antike permanent Gefährdungen von außen ausgesetzt gewesen ist: Unverteidigt wurde es zerstört und die Bevölkerung versklavt! Die Frage 'Ist das Recht?' so zu stellen, heißt, heutige Verhältnisse und Denkweisen zu geschichtlichen Parametern zu machen, und eine solche Sichtweise ist anachronistisch und ahistorisch.