Der neue Streit um Troia
Eine Bilanz

In einem ungewissen Augenblick, vor Menschengedenken in der Heroenzeit ist Troia untergegangen, und es ist dank Homer seit der Antike ein Mythos geblieben. Selbst Alexander d.Gr. hat dort des Achill gedacht, und nahezu jede Epoche hat auf ihre Weise den Mythos gepflegt bis hin zur Moderne, wie etwa Giraudouts 'Und der Trojanische Krieg findet nicht statt' zeigt. Die Bedeutung der Stadt und ihres Barden Homer für die moderne Archäologie verkörpert Schliemann, der Selfmademan, der diese Stadt vor über hundert Jahren auf eigene Kosten ausgegraben hat. Alles zusammen böte bereits Stoff für mehr als einen Mythos, und dennoch spinnen die Parcen den Schicksalsfaden weiter. Seit 1988 finden in dem am Bosporus gelegenen Hisarlik erneut Ausgrabungen statt, neue Funde beflügeln die wissenschaftliche Forschung wie die Phantasie, und die Erschließung der hethitischen Schriftquellen trägt das Ihre dazu bei. Zwischenberichte und Erfolge werden auch außerhalb der Fachorgane beachtet, die Ausstellung 'Troia ' Traum und Wirklichkeit' hat 2001/2 in drei Städten der Bundesrepublik Deutschland Besuchermassen angezogen, und ' neben anderen einem breiteren Publikum bestimmten Veröffentlichungen ' 2001 hat der Altphilologe und Homerforscher J. Latacz mit seinem glänzend geschriebenen, in sich völlig schlüssigen 'Troia und Homer' ein Buch vorgelegt, welches in der Diskussion um die Historizität der Rolle Troias und des um die Stadt ausgetragenen Kriegs nachgerade ein Schlußstein sein wollte: Die Ilias war demnach kein Produkt dichterischer Phantasie, sondern die ' im 8./7. Jahrhundert erfolgte ' Verschriftung von Erzählgut, welches seit mykenischen Tagen ' mithin seit rund einem halben Jahrtausend, mit Hilfe und in Form des in dieser Zeit schon bekannten Hexameters ' mündlich tradiert worden war. Weniger Details und weniger Fakten hatten Schliemann zu seinen Leistungen beflügelt!
Die neuerliche Verfestigung des im Grunde nicht neuen Bildes von Troia und vom troianischen Krieg hat zum vorliegenden Band geführt; die häufigen Hinweise auf Latacz beweisen das. Es geht erneut um die Historizität des in den homerischen Epen Geschilderten: Führen die Epen Ereignisse vor Augen, welche zuvor über rund 500 Jahre schriftlos überliefert worden waren? Neun Althistoriker, drei Archäologen, eine Hethitologin, eine Mykenologin und zwei Sprachwissenschaftler revidieren eine Vielzahl von Gesichtspunkten, die hierzu von Belang sind. J. Cobet ('Vom Text zur Ruine. Die Geschichte der Troia-Diskussion'; S. 19-38) umreißt mit einer Fülle an Hinweisen Überlieferungen und Meinungen zu Troias realer Rolle und Lokalisierung seit der Antike bis zu den jüngsten Auseinandersetzungen. Deren Kern stellt bereits zuvor der Herausgeber des Bandes dar ('Wozu eine Bilanz?'; S. 9-15): Es geht um die grundsätzliche Frage, 'ob die Archäologie literarischen Texten zu historischer Aussagekraft verhelfen kann', und im vorliegenden Fall darum, ob der heutige Ort Hisarlik dem Troia der Ilias entspricht und ob an dieser Stelle ein Krieg gespielt hat, der die maßgebliche Vorlage für die Ilias geboten hat. Hierzu zeichnet U. Sinn ('Archäologischer Befund ' Literarische Überlieferung: Möglichkeit und Grenzen der Interpretation'; S. 39-61) höchst anschaulich eine exemplarische Geschichte fehler- oder mangelhafter Ausdeutungen archäologischer Funde unter dem Einfluß literarischer Zeugnisse, während H.-J. Gehrke ('Was ist Vergangenheit? oder: Die Entstehung von Vergangenheit'; S. 62-81) den geschichtstheoretischen Rahmen der Diskussion 'in einer allgemeinen Erörterung der Formen und Modi des Umgangs mit der Vergangenheit sowie in dem Versuch, diese Erörterung am Beispield der homerischen Epen zu konkretisieren' vor Augen führt; insbesondere für Nichthistoriker sind Gehrkes Ausführungen zu Anliegen und Vorgehen der Historiographie methodisch sehr aufschlußreich. Nach den 'Grundlagen' faßt der zweite Abschnitt des Buches sieben Beiträge zu 'Identifizierung, Charakterisierung und Lokalisierung von Troia' zusammen. D. Hertel ('Die Gleichsetzung einer archäologischen Schicht von Troia mit dem homerischen Ilios'; S. 85-104) untersucht, ob die archäologischen Ergebnisse die Annahme rechtfertigten, der in der Ilias geschilderte Krieg spiegle ein historisches Ereignis der Zeit, in der das Hethiterreich wie die mykenischen Palastkultur zugrunde gingen: Er sieht keine Spuren einer griechisch-mykenischen Belagerung und Eroberung im ergrabenen Befund und verneint im Vergleich der Grabungsschichten Troia VIIa (1300-1190) und einiger nachweislich eroberter Städte, daß Troia VIIa im Rahmen einer Eroberung zerstört worden sei. B. Hänsel ('Troia im Tausch- und Handelsverkehr der Ägäis oder Troia ein Handelsplatz?'; S. 105-119) reflektiert Aspekte der historischen Geographie und Wirtschaftsbeziehungen, und spricht anhand des Fundmaterials dem Troia der Schichten VI und VII jegliche diesbezügliche überörtliche Bedeutung ab. Nicht anders verfährt F. Kolb ('War Troia eine Stadt?'; S. 120-145), indem er die bisherigen troianischen Befunde mit dem siedlungstechnischen Begriff der Stadt konfrontiert und keinen Hinweis auf einen städtischen Charakter entdeckt. Unter einem anderen Blickwinkel, aber für 'Stadt und Feste Troia' beinahe ebenso vernichtend sind die ' von I. Hajnal ('Uiluša ' Taruiša. Sprachwissenschaftliche Nachbetrachtungen zum Beitrag von S. Heinhold-Krahmer'; S. 169-173) relativierten ' Ausführungen der Hethitologin S. Heinhold-Krahmer ('Zur Gleichsetzung der Namen Ilios-Wiluša und Troia-Taruiša', S. 146-168), indem sie eine Gleichsetzung von Ilios, Hisarlik und dem aus hethitischen Quellen bekannten Wiluša verneint. Höchst fragwürdig bleiben solche Gleichsetzungen auch angesichts der ägyptischen Quellen, führt sodann P.W. Haider aus ('Westkleinasien nach ägyptischen Quellen des Neuen Reiches'; S. 174-192). In einem zweiten Beitrag revidiert S. Heinhold-Krahmer Lokalitäten und Schriftzeugnisse auf die möglichen Verbindungen bzw. Identitäten von Griechen und Kleinasien, Wiluša und Ilion, AXXiyawa und Achäer, Wiluša und AXXiyawa; ungeachtet einer Reihe entsprechender Hinweise hält sie als Ergebnis fest, daß die in ihrem Titel gestellte Frage ' 'AXXiyawa ' Land der homerischen Achäer im Krieg mit Wiluša?' (S. 193-214) ' derzeit nicht positiv zu beantworten sei. Keine Fürsprache für die Historizität des troianischen Kriegs erbringen auch vier weitere, unter dem Abschnittstitel 'Herkunft und Charakterisierung der homerischen Texte' zusammengefaßte Beiträge. I. Hajnal ('Der epische Hexameter im Rahmen der Homer-Troia-Debatte'; S. 217-231) erachtet es als unwahrscheinlich, 'daß die epische Sprache (in der bekannten Ausprägung) sowie der Hexameter in eine vormykenische Phase zurückreichen'; Homers Diktion stehe 'jedoch in Ansätzen der auf den mykenischen Linear B-Tafeln bezeugten Diktion' nahe. M. Meier-Brügger ('Die homerische Kunstsprache'; S. 232-243) führt knapp und unter Beigabe reicher Literaturnachweise in Charakteristika, Spuren der Entwicklungsstufen und Vorgeschichte der homerischen Kunstsprache ein. Den diesbezüglichen, schon seit langem erörterten und von ihm vorgelegten Beispielen spricht er die Beweiskraft für eine Entstehung von Vorformen der Dichtung im 16./15. Jh. v. Chr. ab; zwar gäbe es weit zurückreichende Traditionssträge, der troianische Sagenkreis aber sei 'vermutlich erst nachmykenisch fester Bestandteil der griechischen Heldenepik geworden'. Etwas irreführend ist übrigens die marginale Feststellung, 'bis zu Platons Zeiten galt für den einfachen Bürger die Mündlichkeit'. (S. 233). Die sich mehrenden Funde frühgriechischer Texte auf Blei zeigen, daß sich schon vor Platon jene Kreise der Schrift bedient haben, denen dieses Kommunikationsmittels nützlich war. B. Patzek ('Die homerischen Epen im Spiegel ihrer geschichtlichen Tradition: Oral Poetry und Oral Tradition'; S. 245-261) erörtert zum einen die Kompositionsprinzipien, welche der mündlich überlieferten Volkspoesie zugrunde liegen, und zum anderen die Motivanalysen, die der Rekonstruktion der Vorgeschichte der homerischen Epen dienen; er gelangt zum Ergebnis, die Gegebenheiten im Griechenland der nachmykenischen, 'dunklen' Epoche hätten der mündlichen Überlieferung über eine schriftlose Periode hinweg entgegenstanden. Der Herausgeber selbst bietet eine eingehende, terminologisch wie wissenschaftshistorisch interessante Exegese (Chr. Ulf, 'Was ist und was will : Bewahrung der Vergangenheit oder Orientierung für Gegenwart und Zukunft?'; S. 262-284); er beantwortet seine Frage im letztgenannten Sinn. Der Schlußabschnitt ist 'Troia und  in der Geschichte ' gewidmet. B. Eder verneint anhand ihres Themas ('Noch einmal: der homerische Schiffskatalog'; S. 287-308), daß die Ilias authentische Erinnerungen an die mykenische Palastperiode enthalte: '(Das Epos) ist als historische Quelle für Zustände und Ereignisse aus jener Epoche nicht geeignet.' K. Raaflaub ('Die Bedeutung der Dark Ages: Mykene, Troia und die Griechen'; S. 309-329) beleuchtet zur Frage der Historizität des Troianischen Krieges die Nachrichten zu Krieg und Kriegführung, historische Entwicklung und faßbare soziopolitische Gegebenheiten in den fraglichen Epochen und hebt hervor, daß die Relikte in mancherlei Beziehung zwar Alltag und Geschichte entsprächen und das Epos eben dies spiegle, aber die Tatsache des Krieges selbst nicht zu beweisen vermöge. Abschließend spielt Raaflaub die historischen Möglichkeiten eines solchen Krieges und der Tradierung der Nachrichten hierüber durch und verneint nach dem derzeitigen Kenntnisstand einen Rückbezug. R. Rollinger schildert mit anschaulichen Belegen die Kulturkontakte zwischen dem Vorderem Orient und der Ägäis, sieht dabei aber keine eigenständige Rolle Troias ('Homer, Anatolien und die Levante: Die Frage der Beziehungen zu den östlichen Nachbarkulturen im Spiegel der schriftlichen Quellen'; S. 330-348). R. Bichler ('Die Datierung des Troianischen Kriegs als Problem der griechischen Historie'; S. 349-367) überprüft die chronologischen Ansätze der griechischen Antike zum Krieg und erweist sie als reine Mutmaßungen. Abkürzungsverzeichnis, Register und Autorenverzeichnis be- und erschließen diesen Band, zu dem man den Autoren, dem Lektor (s. S. 8) und dem Verlag gratulieren darf. Die Beiträge sind teilweise zu fachspezifisch ausgerichtet, um einen leichten Zugang zu gestatten, aber die Mühe lohnt durch eine Fülle an An- und Einsichten. Den Band mit dem Untertitel als 'Bilanz' zu verstehen, fällt schwer. Es handelt sich eher um eine Replik, welche ebenso ausgewogen wie detailliert geraten ist: Der 'Streitgegenstand' wird ausgezeichnet und umfassend gewürdigt, und Gegengründe werden nicht verschwiegen. 'Bilanz' verlangt freilich mehr: Soll und Haben aller Konten sind miteinander zu verbinden. Um dies in einem schwelenden wissenschaftlichen Streit zu erreichen, ist es unerläßlich, Vertreter der Gegenmeinung beizuziehen. Die aber haben sich dem Unternehmen versagt (vgl. S. 9f.). Ein solches Verhalten in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ist stets zu mißbilligen. Das gesprächsunwillige Beharren auf der eigenen Position führt nicht weiter, und davon zeugt auch der vorliegende Band. Die Bewertung der Troia betreffenden Zeugnisse und Diskussionen überschreitet die Grenzen einer einzelnen Disziplin bei weitem; sie kann also nur interdisziplinär erfolgen. Mit den Vertretern der Gegenposition geht deshalb heim, daß sie nicht mitgewirkt haben.
Das Ergebnis kann folglich nicht verwundern: Der vorliegende Band beraubt in detailreichen Ausführungen den Paradiesvogel Troia all seiner Federn und läßt am Ende fragen, weshalb an dieser Stelle über Jahrtausende hinweg Menschen gesiedelt haben, ohne vorab das Votum heutiger Wissenschaftler einzuholen. Ob Troia tatsächlich eine so belanglose Stätte gewesen ist, ist freilich nur ein Aspekt der troianischen Frage. Gnadenlos zerredet wird auf diese Weise das in 'Ilias' und 'Odysse' manifeste dichterische Werk. Woher dessen Gedanken und Bilder gekommen sind und woran sie knüpfen, bleibt belanglos, solange sich nur dartun läßt, daß dafür keine Erdkrume des Hügels Hisarlik Pate gestanden haben kann und daß 'Ilias' und 'Odysse' keine vertrauenswürdigen Wegweiser in die vormykenische Welt sind.
Irgendetwas kann nicht stimmen. Von der einen Seite wird das Bild eines wirtschaftlich und siedlungspolitisch belanglosen Ruinenhügels entworfen, von der anderen das eines in die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen seiner Zeit eingebundenen, lokalen Machtzentrums, welches durchaus Anreiz für einen Raubzug oder eine Belagerung gegeben haben könnte. Raubzug oder Belagerung, Beschreibung oder Dichtung, Europa gegen Asien ' all das prägt offenbar auch weiterhin die Auseinandersetzung um Troia. Woher Homer seine Anregungen bezogen hat, bleibt die Frage und bedarf weiterhin der interdisziplinären Diskussion. Der Gedanke, die Parameter dieser Auseinandersetzung zurückzuschrauben, und statt einer imaginären historischen Wirklichkeit irgendwelche durch geschichtsbezogene Reminiszensen hervorgerufene poetische Assoziationen zum Forschungsgegenstand zu machen, taucht nicht auf. 'Sein oder Nichtsein' eines vorhomerischen Krieges, geführt von einem panhellenischen Aufgebot gegen ein kleinasiatisches Bollwerk, das ist die in nahezu allen Beiträgen mehr oder minder spürbare Frage. Es geht um die Historizität der homerischen Schilderung, anhand der ein wissenschaftlicher Außenseiter namens Heinrich Schliemann, begünstigt durch mancherlei Umstände, 'Troia' entdeckt hat. Ein wesentlicher Faktor war Schliemanns Glaube an die von Homer geschilderte Welt, und diese Tatsache läßt sich so wenig wie Schliemanns Erfolg aus der Welt schaffen.
Kritische Bemerkungen sollen hier auf ein Detail konzentriert und damit exemplarisch sein. Es geht um die schriftliche Überlieferung. Ägyptische, hethitische und (mykenische) Linear B-Texte und der Ton sowie die Inschrift als Schriftträger werden traktiert. Die Aufmerksamkeit gilt freilich nicht den weiteren, andeutungsweise durchaus bezeugten Schriften und Schriftträgern. Bereits für die altassyrische Kaufmannssiedlung Karum Kaneš (heutige Türkei) des beginnenden 2. Jahrtausends v. Chr. ist evident, daß die Kaufleute und die mit ihnen verbundene lokale Bevölkerung Keilschrift und Ton benutzt haben. Im übrigen ist von der indigenen Bevölkerung bislang nichts ergraben. Dies aber läßt weniger auf Schriftlosigkeit denn auf einen nicht erhaltenen, für eine 'nicht-keilschriftliche' Schrift besser geeigneten Schriftträger schließen. Daß es andere Schriften gegeben hat, bezeugt das in dem vorliegenden Band kaum erwähnte Hieroglyphenluwische, und daß es entsprechende Schriftträger gegeben hat, bezeugen Darstellungen, welche zweierlei Schreiber mit ihren typischen Schriftträgern zeigen. Die Indizien lassen vermuten, daß es sich bei den nicht erhaltenen Schriftträgern vor allem um Holztafeln und Leder gehandelt haben dürfte. Was uns nicht erhalten ist, kann man nur erahnen, und aus dem Fehlen dieser Quellen läßt sich nicht argumentieren.