Lexikon der deutschen Geschichte 1945-1990

In einer Münchner Gastwirtschaft gründeten am 5. Januar 1919 der Werkzeugschlosser Anton Drexler und der Journalist Karl Haller eine antimarxistische und antisemitische 'Deutsche Arbeiterpartei'. Es gehört zu den geschichtlichen Zufällen mit äußerst fatalen Folgen, daß im Spätsommer des gleichen Jahres im Auftrag der Reichswehr der Gefreite Adolf Hitler eine Versammlung der Partei besuchte und sich für deren Ziele begeisterte; er wurde ihr Werbeobmann. Im Februar 1920 erfolgte die Umbenennung in 'Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei' (NSDAP).
Wolfgang Benz beginnt seine kurz gefaßte Geschichte des Dritten Reichs mit einem 'Prolog', der sich der 'Kampfzeit der Bewegung' in den 20er Jahren widmet. Daß ein von abstrusen rassistischen Wahnvorstellungen besessener Demagoge, ein abgründiger Spießer par excellence wie Hitler so erfolgreich sein konnte, ist nicht völlig unverständlich, wenn man die politische, soziale und mentale Situation der Weimarer Republik betrachtet. 'Der ‚Bewegung‘ des Adolf Hitlers, des von Größenwahn und Paranoia, Allmachtsphantasien und Ängsten getriebenen politischen Erlösers, gelang es, mit den simplen Parolen einer auf Feindbilder aufgebauten Ideologie die Unzufriedenen und Deklassierten, die Traumatisierten und Verzweifelten nach dem Ersten Weltkrieg unter der Zauberformel ‚Nationalsozialismus' zu integrieren. Das Schlagwort verhieß Synthese entgegen gesetzter politischer Ideen und einen dritten Weg aus dem Elend der ungeliebten Weimarer Republik. Die antikapitalistischen Ingredienzien dieser Ideologie waren freilich nur beliebiges Beiwerk, die sozialdarwinistischen, antisemitischen, völkischen Elemente blieben entscheidend, der Führerkult bildete die Erfüllung des zeittypischen Wunsches nach dem starken Mann, er diente als Gefäß nationaler Hybris.'
Das Zitat, das den 'Prolog' beschließt, zeigt bereits, wie vorzüglich der Autor komplexe Geschehnisse aufs Wesentliche hin zu deuten vermag. Das geschieht auch bei den nachfolgenden Kapiteln, welche die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 (und ihre Vorgeschichte), die Festigung der Macht, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, ferner Terror und Verfolgung, den Krieg (mit Judenmord und Widerstand) und schließlich den Zusammenbruch thematisieren. Die Ankündigung des Vorworts wird voll erfüllt: nämlich daß dieser Band sich an Leser wende, die knapp, aber zuverlässig informiert sein, die Erkenntnisse der historischen Wissenschaft für das eigene Urteil nutzen, aber den Aufwand der Gelehrsamkeit nicht im Einzelnen nachvollziehen wollen. Die Auswahl der Fakten hat der Autor dabei so getroffen, daß diese sich als Knotenpunkte erweisen, von denen man die vielseitigen Aspekte des Geschehens aufdröseln kann; der narrative Duktus läßt Aufmerksamkeit nie erlahmen.
Aber um welche Darstellungsform es sich auch handelt - ausführlich, wie in vielen Werken, von denen eine Auswahl am Ende des Bandes aufgelistet ist, oder knapp, wie bei diesem Band -, das Rätsel bleibt ungelöst: Wie konnte es dazu kommen, daß eine Nation, die kulturell und zivilisatorisch durchaus Bedeutsames zum 'Weltgeist' beigetragen hat, in einer bis dahin unvorstellbaren Weise auf einen Verbrecherstaat regredierte, in dem Massenmörder mit ihren Sadismen von der überwältigenden Mehrzahl des Volks be- und umjubelt wurden. Die Kapitel über Terror und Verfolgung und die Ausrottungspolitik gegenüber den Juden und minderwertigem Leben im Zweiten Weltkrieg kann man nur mit größter Beunruhigung angesichts des Versagens jeglicher Humanisierung zur Kenntnis nehmen. Mit Recht spricht Benz vom 'Zivilisationsbruch'. 'Daß der Abschied von Demokratie und Rechtsstaat, der Rückfall ins Barbarentum so rasch den Beifall jener fand, die Hitler und seinen Anhang erst belacht und sich dann eingebildet hatten, sie könnten ihn für ihre Zwecke einspannen, gehört zu den entscheidenden Voraussetzungen der 'deutschen Katastrophe' (F. Meinecke). Wer sich damals bereitwillig unterworfen hatte, der hielt sich später, nach dem Zusammensturz des Dritten Reiches, oft für unschuldig und 'mißbraucht'.
Dichterisch gesprochen: Ein 'Volk in Blödigkeit'; die Masse der Deutschen, die zwölf Jahre lang in Schande gelebt hatte, verhielt sich nach der totalen Niederlage weitgehend so, als hätte sie mit dem nationalsozialistischen Verbrecherstaat eigentlich nichts zu tun gehabt, weshalb auch 'Trauerarbeit' weitgehend als unnötig angesehen wurde.
'Wenn einstmals diese Not / lang wie ein Eis gebrochen, / dann wird davon gesprochen, / wie von dem schwarzen Tod; / und einen Strohmann bau'n / die Kinder auf der Heide, / zu brennen Lust aus Leide / und Licht aus altem Grau'n.' So Gottfried Keller in seinem Gedicht Die öffentlichen Verleumder, das mit seherischer Kraft die Mentalitätsgeschichte des Dritten Reichs vorwegnahm; es zirkulierte, immer wieder abgeschrieben, in Kreisen der Inneren Emigration und des Widerstandes; in der zitierten letzten Strophe beschreibt es den abrupten Übergang nach beendetem 'Spuk' zur Normalität. 'Für mich', meinte Hannah Arendt, 'ist die letzte Strophe dieses Gedichts immer der Weisheit letzter Schluß für die ganze Angelegenheit gewesen.'
Aus den Ruinen, aus 'altem Grau'n', erstanden die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik. Knapp beschrieben werden die Ereignisse, Institutionen, Personen von BRD und DDR durch Michael Behnen und seinen rund 90 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen - wenn auch auf 690 Seiten, handelt es sich doch um ein Lexikon. Präzision und Anschaulichkeit (nicht narrative, sondern enzyklopädische) charakterisieren gleichermaßen diesen Band. Bei einem so umfangreichen Projekt kann man nicht verlangen, daß jeder Nachschlage-Wunsch erfüllt wird; allerdings hätte man unter 'Kulturpolitik' neben dem Beitrag über die DDR gerne einen über die BRD gelesen. Ebenfalls vermißt man bei den insgesamt 36 Überblicksartikeln das Stichwort 'Kultur'; die wichtigsten kulturellen 'Repräsentanten' der beiden Staaten sind nur spärlich berücksichtigt. Ansonsten aber ist es erstaunlich und erfreulich, welche Vielfalt - zwischen 'ABC-Waffen-Verzicht' und 'Zweites Deutsches Fernsehen' - diese Tour d'horizon zentraler Stichworte aufweist. Hermeneutik ohne Fakten bleibt unverbindlich; Benz und Behnen kümmern sich - mit unterschiedlicher Gewichtung - um beides: um die Tatsächlichkeit und die Deutung des historischen Geschehens, und zwar auf fundierte und somit überzeugende Weise.