Die Erfindung der Deutschen
Wie wir wurden, was wir sind

Angesichts weit verbreiteter historischer Ignoranz auf der einen Seite und einer den Buchmarkt geradezu überflutenden Vielzahl von geschichtlichen Spezialuntersuchungen auf der anderen sind Überblicksdarstellungen zu begrüßen; denn sie können auf anregende Weise dem Laien das oft fehlende Orientierungswissen verschaffen. Das versucht nun ein von SPIEGEL-Redakteuren und renommierten Wissenschaftlern als Sammelband verfasstes Buch: 'Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden, was wir sind'. Trotz der Heterogenität der Autoren und Themen hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass die gebotene Reduktion von Komplexität keine unzulässige Vereinfachung bedeutet.
In fünf Teilen wird die Geburt einer Nation und deren Weg beschrieben: Der Weg in die Geschichte / Ein Volk erkennt sich selbst / Begeisterung für das Vaterland / Der Nationalstaat entsteht / Der lange Marsch in den Abgrund. Kapitel, die Fakten und Entwicklungen raffen ' etwa 'Aus vielen Stämmen entstand ein Volk, dessen Monarchen sich als die Erben der römischen Kaiser sahen' ', wechseln mit Kapiteln, die durch Konzentration auf ein besonderes Thema Allgemeines zu erschließen suchen, wie zum Beispiel 'Adolph Menzels 'Eisenkraftwerk': Ikone einer Epoche'. Dazwischen wollen 'Chroniken', die allerdings sehr knapp geraten sind, den zeitlichen Ablauf zusammenbinden.
Ausgangspunkt ist die Überzeugung, so in der Einleitung, dass mit der Vereinigung der beiden Deutschland die historische 'Offenheit' zugenommen habe und 'Deutschland als Faktor der Weltpolitik' wieder da sei; dadurch habe auch das Interesse an der gesamten nationalen Geschichte an Bedeutung gewonnen. 'Wer die nationale Identität und ihre historischen Wurzeln näher kennen lernen will, bleibt nicht mehr unausweichlich am monolithischen Block der Nazi-Ära hängen.' Eine solche Auffassung kann allerdings sehr gefährlich sein, weil das Dritte Reich dadurch historisiert und relativiert wird. Die Kürze, mit der in diesem Buch Hitler, seine Ursprünge und Folgen abgehandelt werden, ist nicht zu rechtfertigen, zumal die Nationalsozialisten vieles von dem, was lange an geschichtlicher Fehlentwicklung angelegt war, nutzten und schrecklich vollendeten.
Ein anderes Buch, wesentlich gewichtiger, kann da für zeitgeschichtliche Aufklärung sorgen; es umfasst zwar nur die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, aber die fünf Deutschland, denen es sich auf autobiographische Weise widmet (Kaiserreich, Weimar, Drittes Reich, Bundesrepublik, Deutsche Demokratische Republik), sagen viel aus über deutsche Geschichte (und ihre Abgründe ) insgesamt.
Der Autor, der in Breslau geborene Historiker Fritz Stern, entstammte zwei miteinander bekannten schlesisch-jüdischen Medizinerdynastien; die vier Urgroßväter, beide Großväter und der Vater waren Ärzte. Deren Geschichte ('Das Deutschland meiner Vorfahren') erzählt der Autor zunächst, auch anhand Tausender Briefe, die seine Eltern in die Vereinigten Staaten mitnahmen. Es ist die Geschichte des für die deutsche Kulturentwicklung so wichtigen jüdischen Bildungsbürgertums, das nach der Emanzipation (teilweise mit Konversion verbunden) vor allem im Arztberuf seine Erfüllung fand. Der Arztkittel sei im kaiserlichen Deutschland 'die einzige würdevolle Uniform gewesen, die Juden anstrebten, und in der sie eine gewisse Autorität und Anerkennung erfahren konnten.' (Zu Ende des 19. Jahrhunderts waren die Breslauer Ärzte fast zur Hälfte Juden oder jüdischer Abstammung.)
Die Hoffnung, dass der Antisemitismus, gerade weil er vormoderne Wurzeln hatte, in der 'neuen, strahlenden, säkularen und wissenschaftlichen Welt' verschwinden würde', trog auf furchtbare Weise. Fritz Stern wurde hineingeboren in die Notlage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, aus der Hitler hervorging; dieser wäre freilich nicht unvermeidlich gewesen. Doch konnten sich diejenigen, die ihre neu erworbene Demokratie tapfer verteidigten, gegenüber den 'niederen Dämonen', die in antiaufklärerischen Strömungen des 19. Jahrhunderts wurzelten ' eine der frühen Arbeiten Sterns beschäftigte sich mit dem deutschen 'Kulturpessimismus' ', nicht durchsetzen.
Die schlimmsten Erfahrungen standen im Deutschland des Dritten Reichs noch bevor: Ausgrenzung in der Schule und die lange Suche der Eltern nach Auswanderungsmöglichkeiten. Am 30. September 1938 gelang mit der Einschiffung in Rotterdam die Ausreise nach New York. Es folgte das Hoffen auf den Kriegseintritt der USA, damit das verbrecherische Naziregime sein Ende finde. Die extreme Unmenschlichkeit der Konzentrationslager habe man sich vorstellen können, nicht aber die satanischen Gaskammern. Nach der Nazityrannei, die in nur zwölf Jahren eine ganze Welt zerstörte, habe sich ein Gefühl unendlicher Erleichterung, in das sich zweifellos auch Hass mischte, breit gemacht; viele Verwandte und Bekannte waren ermordet worden. Stern verblieb nicht in der Ablehnung Deutschlands; er wurde als Vermittler zwischen den USA und der Bundesrepublik herausragend tätig.
Der Autor kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken; sein Ratschlag bleibt für Gegenwart und Zukunft wichtig. Zu den vielen Deutschland, die er erlebte, ist nach der Vereinigung ein weiteres, die Berliner Republik, hinzugekommen. Gerade in ihr sollte ein Wort von Albert Camus aus dem Roman 'Die Pest', das dem Buch vorangestellt ist, gewärtig bleiben: Der Pestbazillus sterbe und verschwinde nie. Immer drohe der Tag, da die Krankheit 'zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken' werde. Lassen wir uns durch diese bedeutsame Autobiographie, die den Blick aufs Gesamtgeschehen nie verliert, belehren!