Die Gnade der späten Geburt, die Helmut Kohl für sich und seine Generation in Anspruch nahm, galt für den 1904 geborenen Kurt Georg Kiesinger nicht. Die Tatsache, daß er im Dritten Reich in die NSDAP eingetreten war und dann im Zweiten Weltkrieg im Auswärtigen Amt mitarbeitete, führte dazu, daß er, vor allem bei Übernahme des Amtes des Bundeskanzlers (1966 bis 1969), besonders angegriffen wurde. Aus seinem Basler Exil meldete sich etwa der Philosoph Karl Jaspers zu Wort. Daß ein alter Nationalsozialist an die Spitze des Bundeskabinetts berufen worden sei, müsse man nicht nur als einen Affront gegenüber dem Ausland empfinden, sondern auch als eine Beleidigung gegenüber der Minderzahl der Deutschen, die den Nationalsozialismus immer gehaßt hätten und noch hassen. Andere, auch solche, die der nationalsozialistischen Diktatur ablehnend gegenübergestanden hatten, nahmen Kiesinger allerdings in Schutz. Der Verfasser dieser ersten wissenschaftlich fundierten Biographie Kiesingers resümiert: Der dritte Kanzler werde stets umstritten bleiben, solange es keine einheitliche Sicht der Nachwirkungen des Dritten Reiches in der Bundesrepublik gäbe.
Da Kiesinger, Lübke vergleichbar, mit keinem wichtigen Projekt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte identifiziert werden kann, ist er primär auf das Image des Mitläufers bzw. Opportunisten im Dritten Reich festgelegt. Vor allem im links-liberalen Spektrum gilt Kiesinger bis heute als eine anrüchige Figur; seine Partei jedoch hat längst ihren Frieden mit ihm gemacht; im Südwesten sind seine Verdienste als Baumeister des Landes und Gründer dreier Universitäten unumstritten; seine Ministerpräsidentschaft 1958 bis 1966 gilt als Glanzzeit der baden-württembergischen Geschichte. Helmut Kohl setzte mit seinen Ehrungen für Kiesinger einen geschichtspolitischen Akzent, aber auch Herbert Wehner versöhnte sich mit ihm und bezeugte seinen Respekt, wobei seine eigenen Erfahrungen als zwielichtig-einflußreicher Kommunist zu Stalins Zeiten ihn milde gestimmt haben mögen.
Die umfangreiche Biographie dieses Kanzlers 'zwischen den Zeiten' beschreibt die Anfänge des Politikers, dann seinen Weg vom Nationalsozialismus zur Demokratie, die parlamentarische, parteipolitische Tätigkeit in der Ära Adenauer und als Ministerpräsident in Baden-Württemberg; an das Hauptkapitel 'Kanzler der großen Koalition' schließt sich eine Bilanz in 25 Thesen an. Es war ein Lebensweg, der von der Schwäbischen Alb über das katholische Verbindungswesen in der Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Entnazifizierung und die 'goldenen' 50er Jahre bis zur Reform- und Umbruchsphase der 60er Jahre reichte.
In einer Zeit, da Politik und Politiker wie Politikerinnen immer profilloser werden, tritt uns aus dieser Biographie, der eine Rehabilitationsschrift zugrunde lag, durchaus ein Mann mit Format, der um eine Synthese von Politik und Geist bemüht war, entgegen. Es ist nicht der schlechteste Politiker, über den man mit Schiller sagen kann: 'Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, / schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.'