Kontinent der Gewalt
Europas langer Weg zum Frieden

Nach der Lektüre des Buches von James J. Sheehan kann man zu der beruhigenden Einsicht kommen: die Europäer haben aus der Geschichte gelernt; ein Kontinent der Gewalt wandelte sich zu einer Friedensweltmacht. Wirtschaftlich und kulturell stark, hätten die europäischen Staaten und ihr Verbund kein Interesse mehr, ihre Macht militärisch umzusetzen. Das entspräche auch der vox populi: nur 12 Prozent der Franzosen und Deutschen etwa stimmten der Aussage zu, dass Krieg unter bestimmten Bedingungen notwendig sei, um Gerechtigkeit herzustellen (in den USA seien dies 55 Prozent). Dabei misst der Autor, Professor für Geschichte an der Stanford Universität, dem 15. Februar 2003 eine besondere Bedeutung zu: damals fanden die größten Demonstrationen in der europäischen Geschichte statt, um gegen den drohenden Irakkrieg zu protestieren. 'Manche Beobachter deuteten den 15. Februar als Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Der frühere französische Minister Dominique Strauss-Kahn erklärte, an jenem Tag sei eine neue 'europäische Nation' geboren worden. Ein paar Monate später riefen Jürgen Habermas und Jacques Derrida, zwei der bekanntesten europäischen Intellektuellen, Europa in einem Artikel mit dem Titel 'Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas' dazu auf, 'sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UNO in die Waagschale [zu] werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren'. Wie Strauss-Kahn waren auch Habermas und Derrida der Auffassung, die Opposition Europas gegen den amerikanischen Militarismus könne eine neue europäische Identität schaffen, eine Identität, die vor allem anderen auf der Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik gegründet sei.'
Auch wenn man eine solche, gegen den USA-Bellizismus gerichtete Bekundung von Friedfertigkeit nicht unterschätzen sollte ' die Deutung als geschichtliche Wende (im 'Prolog') wird man als naiv bezeichnen bzw. als wenig kritische Huldigung ans 'old Europe' deuten müssen. Von den durch die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung 1992 gezählten 55 Kriegen ' der höchste Stand seit Ende des Zweiten Weltkrieges ' fanden viele in Europa bzw. im asiatischen Teil der früheren Sowjetunion, also im engeren Einflussgebiet Europas, statt.
Immerhin zeigt die ausführliche Darstellung der Zeit von 1900-1914, als einer Epoche, in der Frieden vor allem zur Vorbereitung von Krieg diente, und der Epoche von 1914-1945, in der die Welt vom Krieg geschaffen wurde ' so die ersten beiden Teile des Buches ', dass die Europäer, vor allem die Deutschen, als sie noch einmal davongekommen waren, eine Umkehr anstrebten. 'Eine der besten Aufsatzsammlungen über die unmittelbare Nachkriegszeit trägt den Titel 'Leben nach dem Tod'. Ihr Zentralthema ist der manchmal verzweifelte Versuch von Menschen, wieder ein normales Leben aufzubauen, nachdem sie von soviel Zerstörung umgeben waren. Für Millionen Europäer war das Problem nach 1945 nicht die Sinngebung, sondern das Überleben ' Nahrung, ein Platz zum Schlafen, Schutz vor der Kälte. Dafür war es notwendig, die Ruinen beiseite zu räumen und eine neue soziale und politische Ordnung aufzubauen.' Nun wurde eine neue Identität geschaffen, die in der Abschaffung des Krieges als Mittel der Politik gegründet war. Selbst der Kalte Krieg half dabei, weil er eben kalt blieb. Friedliche Integration, wirtschaftliches Wachstum und soziale Absicherung waren wichtiger als territoriale Expansion und politischer Machtgewinn. Zudem bannte die Angst vor der Atombombe, die totale Gefährdung durch sie, Gewaltanwendung. Aber auch ohne den 'Brutkasten des Kalten Krieges' ' der Autor wagt hier eine eigenartige Metapher ' hätte sich insgesamt der Prozess des Zusammenlebens als robust erwiesen. Falls Gewalt in Europa ausbreche, werde sie nicht von innen, sondern von außen kommen, 'aus jener instabilen und gefährlichen Welt, in der die Europäer ihr ziviles Leben führen müssen.' Für den 'ewigen Frieden', den schon Immanuel Kant erhoffte, ein zwiespältiger Aspekt ' eben nur ein Sonderweg Europas, den im Augenblick weder die USA und China noch die islamische Welt zu gehen bereit sind; ihnen fehlen zudem die Erfahrungen zweier furchtbarer Weltkriege. Schließlich darf man auch eine Paradoxie nicht übersehen: Will Europa die Lehren aus seiner Geschichte weitergeben, hat es sich weltpolitisch zu engagieren, notfalls militärisch. Muss man nicht 'kriegerisch' sein, um Friedensmacht in einer feindlichen Welt zu sein?