Schweizer Gebrauchsgeschichte
Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität

Den ungewöhnlichen Terminus 'Gebrauchsgeschichte' erläutert der Verfasser dahingehend, daß es dabei um eine besondere Art des Umgangs mit Geschichte gehe, bei der sie wie ein Gebrauchsgegenstand benutzt werde. 'Gebrauchsgeschichte ist jene Geschichte, die immer wieder zum Einsatz kommt, um eigene Positionen historisch zu legitimieren. Gebrauchsgeschichte par excellence ist etwa jene, die der nationalen Identität dient, sei es als Nationalgeschichtsschreibung, die dem Staat eine zielgerichtete Entwicklungsgeschichte hin zum aktuellen Zustand verpasst, um diesen historisch zu begründen; sei es in Form allgemeiner historischer Vorstellungen und im Bewusstsein lebendiger Geschichtsbilder, die das Selbstwertgefühl, das Bewusstsein einer nationalen Identität stützen und fördern.' Es geht in diesem Band also vor allem um Mythenbildung und nationale Identität ' und zwar in der Schweiz. (Man kann freilich fragen, ob es überhaupt eine Geschichtsbetrachtung gibt, die nicht irgendeinem Zweck, irgendeinem Sinn dient; sie wird nie völlig wertfrei sein können.)
Die schweizer Gebrauchsgeschichte sei vor allem von Vorstellungen über das Mittelalter geprägt und einzigartig gut dokumentiert. Entsprechende Traditionsstränge werden bis in die Aktualität hinein verfolgt. Von prägender Kraft war dabei die 'Eidgenossenschaft', die sich aus dem Bündnissystem von Städten und Talschaften entwickelte und vom Bewußtsein getragen war, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Das Wesen der alten Eidgenossen, die sich als ein selbstgenügsames, vom Ertrag der eigenen Scholle lebendes, fremdem Luxus abholdes Bauerntum empfanden, geprägt durch die Schlichtheit der Sitten und moralische Standhaftigkeit, wurde als Leitkultur propagiert, wobei solche volkstümlichen Vorstellungen nicht auf der historischen Wirklichkeit, sondern auf einer in der geistigen Auseinandersetzung mit Gegnern entwickelten Ideologie beruhten. Von Anfang an stand nämlich dem vorteilhaften Bild von der alten Eidgenossenschaft eine selbstkritische Tradition gegenüber, die das Idealbild an der aktuellen Wirklichkeit maß. So ist die schweizerische Geistesgeschichte bestimmt von dem Diskurs zwischen alten und jungen Eidgenossen, wobei die Erhebung des Geschichtsbildes zum nationalen Mythos besonders im 19. Jahrhundert geschah; und dann auch die Selbstkritik im Traditionsbewußtsein marginalisiert wurde.
Nach einer ausführlichen faktenreichen Behandlung dieses schweizerischen Geschichtsbildes wendet sich der Verfasser im zweiten Teil den kollektiven Erinnerungen zu, wie sie hauptsächlich mit den Gestalten des Wilhelm Tell und des Winkelried, also zwei sagenhaften Schweizer Nationalhelden, verbunden sind. 'Gerade Tell, dieser erstaunliche Geselle, ist im Laufe der Zeiten, immer sein Gewand vertauschend, in viele Rollen geschlüpft, ist, bis etwa zunächst ins 18. Jahrhundert hinein in der Schweiz, dann zusehends international, im wörtlichen Sinne zu einem 'Allerweltskerl' geworden. Er ist von gegensätzlichsten Anliegen und Tendenzen, von widersprüchlichsten Forderungen als Vorbild und Schutzpatron aufs Schild gehoben worden und hat immer allen gedient. Je berühmter, desto beliebiger ist er geworden.'
Neben Personen ist für die Schweiz besonders charakteristisch, daß auch die dominierende Landschaft, das Bergmassiv der Alpen, die nationale Identitätsbildung wesentlich bestimmt hat. Sie waren bei dem 'Griff in den Bastelkasten für die schweizerische Identitätspräsentation' besonders folgenreich, wobei den Aufklärern eine große Bedeutung zukam. Albrecht von Haller etwa hat in seiner großen Dichtung 'Die Alpen' deutlich gemacht, daß die Wesenszüge der vorbildlichen Vorfahren mit geformt wurden durch Klima und Umwelt; als Schülern der Natur waren ihnen 'güldne Zeiten' beschert. Das Glück des Staates gedieh inmitten der Berge besonders gut.
Insgesamt eine umfangreiche gründliche Studie, die den Entstehungsgrund und die Entwicklung des Mythos Schweiz, wie er nicht nur im europäischen Bewusstsein, sondern weltweit vorhanden ist, anschaulich erklärt.