Die Kultur der zwanziger Jahre

In Gegensatz zu anderen übergreifenden Darstellungen der zwanziger Jahre in Deutschland glaubt der Herausgeber des Sammelbandes über das Dezennium zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn des Dritten Reiches die Frage, ob es sich um 'wilde' Jahre gehandelt habe, mit einem 'klaren Nein' beantworten zu müssen. 'All diese Adjektive, die letztlich den Mythos vom 'goldenen' Zeitalter suggerieren, zeichnen ein Bild in einem bestimmten Rahmen und aus parteilicher Perspektive.' Abgesehen davon, dass man längst die Kultur der Weimarer Republik in ihrer Ambivalenz als 'golden-hässlich' etikettiert ' die Einzelbeiträge dieses informativen Kompendiums (über Angestellten- und Arbeiterkulturen, die neue Frau, Bildung, Musik, Literatur, Malerei, Fotografie, Film und Rundfunk) zeigen durchaus, wie hektisch und widersprüchlich es in dieser ersten deutschen Demokratie zuging, gleichermaßen faszinierend wie abstoßend. Eine neue Bewertung, wie sie der Herausgeber in Anspruch nimmt, liegt also keineswegs vor, wenn er bilanzierend feststellt: 'Umwälzungen, Turbulenzen, Innovationen, Brüche und Wandel, aber kein Chaos; Fragmentarisierung, Populismus, Irrationalismus und Ideologien, aber kein Totalitarismus. Wollte man versuchen, die Kultur dieses dritten Jahrzehnts übergreifend genauer zu charakterisieren ' als Fortführung von Medienkultur und revolutionärem Aufbruch wie vor den Ersten Weltkrieg ', so käme am ehesten jener Widerspruch von Vermassung und Ausdifferenzierung in Frage, aus dem sich die Dynamik und Bandbreite der damaligen Kultur vielleicht am besten verstehen lässt: einesteils Standardisierung und Amerikanisierung, andernteils Segmentierung und Polarisierung. Nie zuvor waren Kommerzialisierung und Ästhetisierung eine derart fragil-spannungsreiche Beziehung miteinander eingegangen. Die Veränderung des Lebensgefühls vieler Menschen in den 20er Jahren, speziell in Berlin und in anderen deutschen Großstädten, allen voran Hamburg und München, kann in der Tat als 'Tanz auf dem Vulkan' bezeichnet werden.' Es habe eine prekäre Balance gegeben zwischen neuen Lebensstilen und dem retrospektiven Beharren der Spießer auf dem Vergangenen, also einerseits der Überwindung alter Tabus und eines breiten revolutionär-kulturellen Aufbruchs und andererseits dem starren Festhalten an den Traditionen der Väter, der Rückbesinnung auf die abendländische Geschichte, letzteres oft verbunden mit einem angstbesetzten, resignativen Irrationalismus. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen hätten im kulturellen Teilsystem der Gesellschaft dieser Zeit durchaus ihr Pendant gehabt.
Die Bereiche dieses Teilsystems, neben den Teilsystemen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, werden durch die einzelnen Autoren vielfältig und anschaulich dargestellt, so dass auch dieses Werk sich ebenbürtig in die vom Herausgeber betreute 'Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts' in Epochenbänden einreiht. Der Vorteil von Anthologien solcher Art besteht darin, dass jeweils Experten aus ihrem gründlichen Spezialwissen schöpfen; der Nachteil liegt in dem Mangel an integrierender Betrachtung. Zum Beispiel: Welche Wechselbeziehungen bestanden zwischen der Welt der Angestellten und dem Film; und umgekehrt: warum ist der Aufstieg des Films so intensiv mit den Problemen der Angestellten verknüpft? Da ist es dann bezeichnend, dass im Literaturverzeichnis zu Helmut Kortes Beitrag 'Filmkultur der 1920er Jahre' Siegfried Kracauers im März 1928 für die Frankfurter Zeitung geschriebener Essay 'Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino', ein äußerst wichtiger Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik, gar nicht auftaucht.
Beckmesserisch sei zudem, freilich nur als 'Fußnote', vermerkt: Hitlers Putsch 1923 wurde nicht in Berlin niedergeschlagen (Seite 9 der Einführung); er fand am 8./9. in München statt; allerdings sollte zusammen mit der bayerischen Regierung die Reichsregierung (in Berlin) abgesetzt werden.
Insgesamt ist der Epochenband wegen seiner phänomenologischen Fülle und übersichtlichen Gliederung zu empfehlen.