Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen

Ein deutscher Ordinarius für Psychiatrie soll jüngst gesagt haben: 'Wer nix kann, kann immer noch Gutachter werden' - mit Blick auf die, zumal in der Medizinerausbildung vorrangig vermittelten Tätigkeitsfelder des Erkennens und Behandelns von Erkrankungen als Behandler, Heiler und Helfer, der 'vornehmsten Pflicht' des Arztes, und die universitäre 'freudige Pflicht' des Forschens um des Fortschritts. Zu Unrecht, enthebt doch eine Begutachtung den Arzt zwar seiner traditionellen Rolle gegenüber dem Kranken, nicht aber der Pflicht um korrekte Diagnose und Einbeziehung der Therapieoptionen, und seine Entscheidungsfindung hat mithin oft weitestreichende Konsequenzen für das weitere Leben des Betroffenen (Beruf oder Berentung; Strafmündig- oder -unmündigkeit). Gerade in der Lehre von den Krankheiten der menschlichen Psyche ist die Beurteilung der Krankheitswertigkeit in ihrem Ausmaß ganz überwiegend auf die 'Objektivierung' individueller Empfindungen ureigenst subjektiver Zustände ausgerichtet und daher die Qualität einer solchen Beurteilung in hohem Maße abhängig von der Erfahrung und Kompetenz des Gutachters.
Neben plastischer Darstellung, eingehender Diskussion der Sachverhalte, gedanklich stringent aber nicht unkritisch geführt, überzeugt der 'Venzlaff / Förster' durch seine in der dritten Auflage nahezu perfektionierte Gliederung, die in dem vom Umfang her als Handbuch ausgelegten Band zum Schmökern verleitet. Obwohl als Viel-Männer-Buch konzipiert (unter den 21 Autoren finden sich lediglich zwei Frauen) fällt kein einziges Kapitel qualitativ 'aus dem Rahmen', man hat das angenehme Gefühl, daß die Stilrichtung und Denkweisen der verschiedenen Autoren sich - zumindest in der vorliegenden dritten Auflage - zu einem harmonischen Ganzen ergänzen.
Mit fast 60 % des Seitenumfangs liegt dabei der Schwerpunkt des Werkes eindeutig auf dem Strafrecht, hier werden auch einzelne psychiatrische Störungsbilder bzw. Störungsbildgruppen jeweils kurz dargestellt und in ihren konkreten Auswirkungen hinsichtlich der strafrechtlichen Beurteilung diskutiert. Hinsichtlich zivilrechtlicher Belange wird der Betrachtungsansatz umgekehrt: Die wesentlichen Rechtsgebiete (Betreuung, Unterbringung, Geschäfts-, Testier-, und Prozeßfähigkeit, Haftungsrecht, Ehegesetz) werden vorgestellt und der Einfluß psychischer Erkrankungen auf diese Bereiche prinzipiell dargelegt. Nur kursorisch sind die Angaben aus dem weiten Feld der privaten Unfallversicherungsbegutachtung gehalten, bei Sozialrecht dominiert die umfangreiche Darlegung der zugrundeliegenden Gesetzeswerke (SGB, soziales Entschädigungsrecht Sozialhilfe und Schwerbehindertenrecht) und Definition der Grundbegriffe (Behinderung, Rehabilitation, Unfall, MdE, GdB). Aus einer solchen 'rechtslastigen' Sicht der Dinge resultiert aus Mediziner-Sicht der eine oder andere Wunsch nach ausführlicherem Einghen, z. B. auf die Beurteilung der Testierfähigkeit, die auf lediglich fünf Seiten besprochen wird, oder der Begutachtung im Sozialrecht (Kranken- und Rentenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, soziales Entschädigungsrecht), eine neben dem Zivil- und Strafrecht die 'dritte Säule' der Begutachtung darstellt und insbesondere im Zuge von Berentungsbegehren in geradezu exorbitanter Weise zunimmt.
Solche Aspekte stehen hingegen im 'Hausotter' im Vordergrund. Wer allerdings hofft, von Wolfgang Hausotter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und als erfahrener Gutachter ausgewiesen durch zahlreiche einschlägige Fachpublikationen zum Thema - quasi 'Kochrezepte' für seine eigene Tätigkeit zu erhalten, der wird sich in diesem Buch enttäuscht finden: Im Gegenteil ruft der Autor - richtigerweise - immer wieder die Notwendigkeit der individuellen Würdigung jedes Einzelfalles, allerdings unter Beachtung grundlegender Prinzipien, nach denen eine medizinische Begutachtung von Menschen mit solchen somatoformen und funktionellen Störungen erfolgen soll, ins Gedächtnis. Jedem Gutachter sind sie nämlich nur zu vertraut: Schmerzen, Taubheit, Schwindel sowie eine ganze Reihe weiterer psychischer Symptome, die sich der Objektivierung durch Labordiagnostik, Röntgendarstellung oder Stromkurvenverläufe entziehen.
Gegliedert in 17 inhaltsbezogene Kapitel, ergänzt durch einen Anhang und ein Sachverzeichnis, führt der Autor zunächst in die Problematik ein, wobei sich auch hier die notwendigen Definitionen und sozialversicherungsrechtliche Grundlagen des Kranken-, Renten- und Unfallversicherungsrechts finden. Entspannend und wohltuend ist dann der Exkurs des 'Psychosomatischen Leidens' von der Antike bis in die Neuzeit. Wichtig ist auch die Darstellung der 'Aufgaben und Stellung des ärztlichen Gutachters' gegenüber dem Probanden - nicht dem Patienten - und Konkretisierung der äußeren Umstände einer Begutachtung sowie der - leider nur zu notwendige - Appell an die Qualifizierung und Freude an der Arbeit als Gutachter. In den weiteren Kapiteln geht der Autor dann systematisch auf Krankheitsbilder, Entitäten, Symptomkomplexe und Syndrome ein. Dabei diskutiert er kritisch und unter Verwendung aktueller Literatur wesentliche - und nahezu ausnahmslos nicht unumstrittene - ätiologische und pathogenetische Konzepte der kontrovers aufgefaßten Störungsbilder, läßt oftmals einen 'Therapeutischen Exkurs' einfließen und stellt die für die einzelnen sozialrechtlichen Felder nach seiner Auffassung zugrunde zu legenden Bewertungsprinzipien eingehend dar, wobei im Einzelfall auch konkrete Prozentzahlen als quasi-Leitlinien bei der Einschätzung von MdE oder GdB genannt werden. Aufgelockert wird diese Darstellung durch zahlreiche, prägnant formulierte Kasuistiken und vertieft durch punktuelle Hervorhebung häufiger Problemkonstellationen, wie z. B. der unfallbedingten Schädigung der Wirbelsäule auf dem Boden bereits vorbestehender degenerativer Veränderungen. Fazit: Der moderne 'Hausotter' ergänzt den Klassiker 'Venzlaff/Förster' unter mehreren Gesichtspunkten in hervorragender Weise, so daß diese beiden Werke aus einem Verlag eine nahezu unverzichtbare Basis für die ärztliche Begutachtung psychisch Kranker abgeben.