Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert

Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu und richtet andere Fragen an die Vergangenheit. Was jeder Historiker weiß, trifft auf Ulrich Herberts lang erwartetes Werk zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert besonders zu. Als Vertreter der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Historikergeneration weist ihn die Ausgangsfrage aus, wie sich die beiden so unterschiedlichen Jahrhunderthälften zueinander verhalten, und dies vor dem Hintergrund, dass diese Generation, ohne die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland und Europa persönlich erlebt zu haben, ständig in deren langen Schatten lebte, dass sie andererseits als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine Zeit erlebten, die von nie gekanntem Wohlstand, von politischer Stabilität und gesellschaftlicher Liberalisierung geprägt war – so sie denn, wie Herbert, in Westdeutschland aufwuchsen.

Herbert selbst spricht zu Recht von einem „Erklärbuch“. Er interpretiert die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Kontext der „Hoch- oder Industriemoderne“, auf die nicht nur die deutsche Gesellschaft Antworten suchen musste, die in Deutschland jedoch in der ersten Hälfte radikaler und gewaltbringender ausfielen als in den anderen westeuropäischen Staaten. Die mit dieser Interpretation verbundene Absage an ein „kurzes 20. Jahrhundert“ und die Hinwendung zu einer Zeitspanne, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzt, ist ebenso konsequent wie schlüssig. Überhaupt werden dem Leser alle Grundsatzentscheidungen, die für eine solche Darstellung vorgenommen werden müssen, hoch reflektiert, aber nie schwerfällig plausibel gemacht.

Es dominiert eine strukturgeschichtlich durchsetzte politische Geschichtsschreibung, die sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Annäherungen nicht systematisiert, sondern im Sinne der jeweiligen Problemstellung gewichtet. Das Kapitel zum Nationalsozialismus stellt hier besondere Herausforderungen. Der Akzent liegt deutlich auf den Kriegsjahren und auf der Dynamik der Gewalt und lässt manche klassische Frage, gerade zum Zeitraum 1933 bis 1939 aus, aber es fällt vor allem auf, dass sich hier der Darstellungsmodus von demjenigen der anderen Hauptkapitel unterscheidet. Die Zahl der Zitate, gerade aus biographischen Quellen, ist deutlich höher, so als ob Herbert bei aller Analyse und Erklärung die „Fassungslosigkeit“ der nachgeborenen Deutschen deutlich herausstellen wollte.

Die Entwicklung der Nachkriegszeit und ihr so unerwartet positiver Verlauf bedürfen daher einer besonders eindrücklichen Analyse, die Herbert ebenso nüchtern wie tiefgehend leistet. Im Einklang mit der jüngeren Historiographie sieht Herbert in den 1970er Jahren einen Strukturbruch, der bis in die Gegenwart reicht. Der Autor hat sich hier nach eigenem Eingeständnis (http://www.zeit.de/2014/20/ulrich-herbert-geschichte-deutschland, 08.05.2014) bemüht, die „Hardware“ dieser Entwicklungen – gerade auch der europäischen Integration – „zu verstehen“. Daraus wird eine Geschichte Deutschlands, die solide in ihren internationalen Bezügen analysiert wird, die jedoch – auch dies ist dem Verfasser bewusst – keine transnationale Geschichtsschreibung leistet. Welche Fragen kann eine nationalgeschichtliche Herangehensweise noch beantworten? Ulrich Herberts Buch gibt darauf nicht nur inhaltliche Antworten, sondern lädt zum methodischen Nachdenken ein.

Dies gilt in besonderem Maße für die jüngste Vergangenheit, der Herbert breiten Raum widmet. „Mit der Entstehung der neuen Bundesrepublik aber wuchsen paradoxerweise sowohl die Befürchtungen der europäischen Nachbarn vor einem Deutschland, das nun stärker und selbstbewusster auftreten würde, als auch ihre Erwartungen an die Deutschen, eben gerade dies zu tun.“ Diese Diagnose, die der Autor (S. 1142) für die Folgejahre der Einheit stellt, ist zweifellos weiterhin von großer Aktualität. Zum Nachdenken über diese Frage würde der Rezensent seinen Lütticher Studierenden im Fach „Geschichte Deutschlands“ die Lektüre des schwergewichtigen Werks von Ulrich Herbert nachdrücklich empfehlen – wenn da nicht die Sprachbarriere wäre. Übersetzungen ins Englische oder Französische würden aus dieser Nationalgeschichte vielleicht einen dialogischen Beitrag zur Europäisierung der Geschichtsschreibung und ihren Bedingungen machen können.