Das vorliegende Buch spiegelt seinen Gegenstand: Es hat eine schwierige (Entstehungs-) Geschichte, verfügt jedoch über eine bemerkenswerte, ja spannende Bandbreite. Es ist zudem ein leider seltenes Ereignis: Forschungen zu den deutsch-belgischen Beziehungen seit dem 19. Jahrhundert, die ihren Gegenstand in einer langen Dauer betrachten, sind rar. Den drei Herausgebern (ein französischsprachiger und eine flämische Literaturwissenschaftlerin sowie ein flämischer Historiker) ist es gelungen, eine pluridisziplinäre, manchmal sogar tatsächlich interdisziplinäre Herangehensweise zu fördern, indem sie Historikern und Literaturwissenschaftlern einen fruchtbaren Austausch ermöglichten, ist doch das Buch das Resultat einer Tagung.
Der Sammelband beruht auf drei Schwerpunkten: die Chronologie, die zwar den für die deutsch-belgischen Beziehungen deutlichen Bruch von 1914 immer wieder thematisiert, aber eben doch über ihn hinausgeht; der Inhalt, bei dem es durchgehend um Kulturtransfers geht und der einen Baustein für eine ausstehende Synthese der deutsch-belgischen Kulturbeziehungen liefern soll; zuletzt die Methode, die sogenannte komparative Imagologie, die einerseits eine Beschränkung auf positive wie negative Stereotypen verhindern und andererseits eine Einbettung in einen europäischen Kontext leisten soll. Hier ist deutlich die Handschrift von Hauptherausgeber Hubert Roland zu erkennen.
Kaum überraschend, aber in seiner Deutlichkeit auffällig ist der durchgängige Befund eines asymmetrischen Kulturtransfers, bei dem der kleine Nachbar mehr vom großen Nachbarn auf- und wahrnimmt als umgekehrt. Darüber hinaus müssen die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen ' gerade für die französischsprachigen Akteure ' eigentlich immer als ein Dreiecksverhältnis mit Frankreich gesehen werden, das den Deutschland-Diskurs in Belgien natürlich maßgeblich mitbestimmte.
Die Themenvielfalt, mit der sich die im Band vertretenen Literaturhistoriker dem Gegenstand nähern, könnte auf den ersten Blick etwas beliebig wirken, überzeugt jedoch gerade durch ihre Vielschichtigkeit, die zeigt, dass es 'den' Deutschland-Diskurs im Belgien des 19. Jahrhunderts eben nicht gab ' auch nicht in Flandern und sicher nicht im französischsprachigen Belgien. Aus der Sicht des Historikers sind die Beiträge von Geneviève Warland und Sophie de Schaepdrijver von besonderem Interesse. Erstere analysiert die Rolle der deutschen Historiografie in Leben und Werk dreier bedeutender belgischer Historiker (darunter Henri Pirenne), während Letztere anhand von ausgewählten Bildern den Riss von 1914 thematisiert.
Dieser Bruch zieht sich natürlich vor allem durch die Beiträge, die der Zeit zwischen den Weltkriegen gewidmet sind ' hier hätte man sich einen Beitrag zur belgischen (philologischen) Auseinandersetzung mit der deutschen 'Westforschung' gewünscht, wie dies Mitherausgeber Marnix Beyen an anderer Stelle geleistet hat. Hervorgehoben sei der Beitrag von Philippe Beck zur deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit ' die er in der Zwischenzeit in seiner Dissertation analysiert hat ', welche die Zerrissenheit des deutsch-belgischen Grenzlandes nach der Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien literarisch spiegelt.
Am Ende bleibt vor allem ein Desiderat: die Einbeziehung des Zeitraums nach 1945 in zukünftige Analysen. Hier ist jedoch noch Einiges an Grundlagenforschung zu realisieren.