Dass Zeitgeschichte einen Beitrag zum besseren Verständnis der Gegenwart leisten kann, ist fast schon eine Binsenweisheit; jenseits von erinnerungspolitischen oder -kulturellen Studien wird eine Geschichte der Gegenwart ' mithin der 'Mitlebenden' in der klassischen Rothfels'schen Definition ' aus verschiedenen Gründen wie mangelnder Distanz oder fehlendem Archivzugang kaum einmal praktiziert. Schon deshalb musste das Buch des IfZ-Direktors Andreas Wirsching zur Geschichte Europas vom Herbst 1989 bis in den Herbst 2011 die Aufmerksamkeit des Publikums, aber auch der Historikerzunft auf sich ziehen. Mehrere Rezensionen erschienen in den überregionalen Tageszeitungen (beispielsweise Ulrich Herbert in der SZ, 13.03.2012; Hans-Ulrich Wehler in der FAZ, 10.03.2012), auch der Autor selbst durfte am Vorabend des BVG-Urteils zum 'europäischen Rettungsschirm' nochmals eine seiner Hauptthesen von der 'Pfadabhängigkeit' als strukturellem Merkmal der Entwicklung der EU darstellen (FAZ, 11.09.2012). Demnach seien in Momenten der Spannungen und der Krisen Lösungen nur innerhalb der bereits existierenden institutionellen Strukturen denkbar, was indirekt die supranationale Integration stärke. Damit ist auch gleich ein Vorzug des Werks benannt: der breite Raum, den Wirsching der EU und ihren Vorgängern einräumt (Kap. III, S. 153-225).
Die Struktur des Buches ist klar und ermöglicht es, die einzelnen Kapitel für sich stehen zu lassen. Das erste Kapitel ist den 'demokratischen Revolutionen 1989/90' gewidmet, anschließend geht es um 'das östliche Europa in den 1990er Jahren' ' mit einem hervorragenden Teil zum Balkan-Konflikt. Es folgen 'das gemeinsame Europa als politisches Projekt', 'die Herausforderung der Globalisierung' und schließlich 'Kulturelle Selbstbesinnungen und europäische ´Identität`'. Am Schluss stehen Überlegungen zu 'Krise und Konvergenz', die bis in die gegenwärtigen Diskussionen um die Finanz- und Schuldenkrise reichen.
Es geht dem Autor um strukturalistische Geschichtsschreibung, was sich in dem steten Bemühen niederschlägt, die langen Linien aufzuzeigen. Dies gelingt insbesondere in den wirtschaftshistorischen Teilen sehr gut, indem Wirsching hier bis in die 1970er Jahre zurückgeht. Verschiedene Rezensenten haben die Kehrseite dieser Methode hervorgehoben: die Protagonisten als solche bleiben blass. Dies gilt m.E. jedoch weniger für das erste Kapitel zu den Umwälzungen von 1989/90, vielleicht dann doch weil hier die größere zeitliche Distanz die Darstellung erleichterte. Dafür wird dieser Nachteil in der Diskussion um die 'Herausforderungen der Globalisierung' und den Neoliberalismus der EU-Institutionen besonders sichtbar.
Sehr aufschlussreich sind die ' recht zahlreichen ' Passagen, in denen es um Geschichte, Gedächtnis und Vergangenheitspolitik geht (nicht nur im so überschriebenen Unterkapitel). Sie bilden auch einen Baustein der Debatte um politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Konvergenzen und Angleichungsprozesse innerhalb Europas, die Wirsching (auf Hartmut Kaelbles Forschungen aufbauend) sehr problembewusst abhandelt.
Als Ergebnis steht eine inspirierende Geschichte unserer Zeit, die leider den Freiheitsbegriff, den sie im Titel trägt, nicht stärker konturiert, die jedoch deutlich macht, dass die jüngste Geschichte nicht nur Sozial- und Volkswirtschaftlern überlassen bleiben muss. Wirschings Buch provoziert ' und das ist ein weiterer, kaum zu überschätzender Verdienst ' auf höchstem analytischen Niveau Fragen danach, wie dann diese Geschichte aussehen wird, wenn sie in gar nicht so ferner Zukunft mit der konventionellen historischen Distanz geschrieben werden wird.