Kommunitarismus und Religion

Im Rückblick auf die irgendwann Anfang des Jahrtausends weniger beendete als vielmehr sang- und klanglos verstummte Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus liegt es mit Blick auf die von den Vertretern des Kommunitarismus gemachten Einwände nahe, ihnen die Gretchenfrage zu stellen ' denn der Hinweis auf die notwendige identitätsstiftende Funktion von Traditionen, tradierten Werten und Normen und die prägende und integrierende Funktion von diversen Formen von 'Sittlichkeit' legt den Hinweis auf die Religion als einen kulturellen Faktor nahe, der diese Momente in sich vereinigt.

Zumindest was Charles Taylor betrifft, der zwar nicht ohne weiteres dem kommunitaristischen Lager zugerechnet werden kann, aber immer wieder dessen Kerngedanken aufgenommen und kritisch weiter zu entwickeln versucht hat, ist die affirmative Bezugnahme auf die Religion offenkundig und eine Vielzahl von Beiträgen in dem vorliegenden Band setzt sich mit seinen Überlegungen (oft im Vergleich mit Habermas) auseinander. Besonders hervorzuheben sind an diesem Punkt die kritischen Anmerkungen von Hans Joas ('Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen', 231-243), der den zuletzt von Taylor in seinem 'A Secular Age' unternommenen Versuch, eine weitere Großgeschichte des Säkularisierungsprozesses zu schreiben, kritisch hinterfragt, indem er ihm das eigene 3-Phasen-Modell der Säkularisierung gegenüberstellt (239 f.).

Ansonsten stehen die meisten Beiträge dem bei vielen Vertretern des Kommunitarismus mal mehr, mal weniger explizit vorhandenen affirmativen (oder zumindest nicht liberal-distanzierten) Verhältnis zur öffentlichen und politisch Einfluss nehmenden Präsenz der Religion positiv gegenüber (beispielhaft dürfte hier der Beitrag von Michael Haus: 'Wie viel Religion braucht der Kommunitarismus?', 39-57, sein). Seltener sind hier eindeutig kritische Stimmen zu hören, wie etwa Jürgen Goldsteins Versuch den Nachweis zu erbringen, dass der Liberalismus den kommunitaristischen Einwänden nicht zwangsläufig ablehnend gegenüber steht ('Die Religionen innerhalb der Grenzen der politischen Vernunft', 57-71). Er macht gegen den 'Hoheitsanspruch' der Religionen (66) geltend: 'Die Bereitschaft, für einen vernünftigen Pluralismus Defizite an Stabilität, Integration und Sinnerfüllungen in Kauf zu nehmen, gehört zur grundlegenden Leistung der liberalen Moderne.' (69) Der Fehler vieler Kritiker des Liberalismus sei die Unterstellung, dass in der Moderne der Hoheitsanspruch der Religion 'durch einen absoluten Anspruch einer laizistischen Weltdeutung' ersetzt werden, was allerdings falsch sei (ebd.). Ob allerdings ausgerechnet Rawls' Theorie, auf die Goldstein sich durchweg bezieht, mit der immer wieder betonten Kritik von 'comprehensive doctrines' ein gutes Beispiel eines 'lernfähigen' Liberalismus ist, bleibt offen.

Deutlich kritischer in Bezug auf die Moderne- und Pluralismus-Kompatibilität der Religion wiederum ist der Beitrag von Walter Reese-Schäfer ('Kommunitaristisches Denken als Glaubensakt. Zur soziologischen Instrumentalisierung von Religion', 103-105), der vor allem dem viel zitierten Böckenförde-Theorem unter Hinweis auf die nicht vorhandene empirische Grundlage einerseits und 'seine raunende Undifferenziertheit' andererseits (109) den Status eines tragfähigen Argumentes abspricht. Ob, wie Reese-Schäfer behauptet, der 'restriktiv-repressive Charakter religiöser Argumentationen' im 'Feld der Biopolitik' nur 'ein empirisches Faktum, keine theologische Notwendigkeit' ist (109), ist allerdings fraglich. Seine Kernthese freilich ist durchaus überzeugend: 'Nicht Religion als solche kann Voraussetzung von Stabilität sein, sondern es ist genau andersherum: Erst eine politisch liberalisierte Religion ist mit den Stabilitätsbedingungen einer liberalen Gesellschaft verträglich.' (106), wenngleich freilich der erste Teil dieser Aussage die Binnenintegration religiöser Gemeinschaften zugunsten einer Fokussierung auf pluralistische Gesellschaften unterschlägt. Dass religiöse Praktiken eben auch einen Beitrag zur Integration leisten können, etwa in Form einer Zivilreligion, wird dagegen nicht zu Unrecht in zahlreichen anderen Beiträgen betont. Ob dieser integrative Beitrag die Kosten der Exklusion von Minderheiten o.ä. aufwiegt, auf die Hauke Brunkhorst in seinem Beitrag hinweist ('Kapitalismus und Religion in der Weltgesellschaft', 169-179), um sie dann überzeugend als deutlich zu hoch zu veranschlagen (177), bleibt allerdings eine zu diskutierende Frage.

Interessant sind letztlich noch die Beiträge von Wolfgang Palaver ('Religion und Gewalt. René Girards und Charles Taylors komplementäre Beiträge zu einer zeitgemäßen Theorie', 319-329) und Walter Lesch ('Zur Zivilisierung religiöser Differenzen. Toleranzkonzepte in der Diskussion', 331-343). Nicht, weil die alte, aber immer noch unglaubwürdige Behauptung, der Mensch sei nun einmal 'wesensmäßig' religiös (Palaver) überzeugend wäre ' was sie ja vor allem deswegen nicht ist, weil diejenige 'Religiosität', die sich bei allen Menschen nachweisen lässt, ja letztlich mit 'Religion' nur noch wenig zu tun zu haben scheint (und alles andere eine bloße Behauptung wäre); und auch nicht, weil die ausbleibende Diskussion verschiedener Konzeptionen von Toleranz, wie sie in dem einschlägigen Buch von Rainer Forst zu finden ist, wenigstens durch einen scharf konturiertes Toleranzkonzept ausgeglichen würde (Lesch), weil eben dies nicht geschieht.

Aufschlussreich sind beide Beiträge aufgrund der Tatsache, dass dort, wo Palaver von einem 'heute vielfach vorherrschenden Generalverdacht gegen die Religion, der alle Gewalt und viele weitere Probleme unserer Welt leichtfertig in die Schuhe geschoben werden', spricht (320), nach Lesch 'üblicherweise eine 'Unschuldsvermutung' zugunsten der Religionen ausgesprochen wird.' (332) Keiner der beiden Autoren bemüht Studien, Umfragen oder Erhebungen oder auch nur einschlägige Debatten zum Nachweis der Wahrheit seiner Behauptung; wie so oft scheint man sich hier auf subjektive Wahrnehmungen 'der' öffentlichen Debatte zu einem Thema zu verlassen, die dann kurzerhand eine objektive Tatsache kreieren. Und je nachdem, wo der Autor sich selbst positioniert, ist 'die' öffentliche Debatte dann eben 'religionsfeindlich' oder wahlweise '(zu) religionsfreundlich'.

Insofern hätte beiden vielleicht Autoren ein Seitenblick in die Texte ihrer Mit-Autoren in diesem Sammelband helfen können, denn zumindest eine Erkenntnis tritt klar zutage: Wenigstens im akademischen Milieu sind weder verhärtete Fronten noch eine klare Pro-Contra-Trennung erkennbar. Die Debatte ist dann offensichtlich doch wesentlich pluralistischer und offener, als vor allem Palavers Wahrnehmung dies ahnen lässt.