Moses Mendelsohn, Ausgewählte Werke.
Studienausgabe

Sicherlich, Moses Mendelssohn wird nicht den gleichen Rang in den Philosophiegeschichten einnehmen wie etwa Kant oder Fichte, und auch hinter seinem Freund Lessing dürfte er, im Zweifelsfall, eher zurücktreten. Aber für das Verständnis der Zeit und der Debatten, in denen diese Herren sich bewegten, ist eine Kenntnis seiner Werke unverzichtbar.
So machte sich Kant in der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft an eine 'Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele' (B 413ff.) ' Grundlage seiner kritischen Rezeption ist Mendelssohns Schrift 'Phädon', hier Band I, S. 341ff. Und in seiner kleinen Schrift 'Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis' kritisiert Kant Mendelssohns Überlegungen in dessen Schrift 'Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum', hier Band II, S. 129ff.
In beiden Fällen lohnt der Vergleich der Darstellung Kants mit dem Original nicht nur aufgrund der eigenständigen Argumentation Mendelssohns, sondern auch im Hinblick auf Kants eigene Position, da er an diesen wie an anderen Stellen dem Gebrauch seiner Zeit folgt und an die Stelle von Zitaten und den heute eher gebräuchlichen Nachweisen lediglich eine kurze Zusammenfassung von These und Kernargument des jeweiligen Gegners bringt. Nicht zuletzt im Hinblick auf die von Kant mitgeprägte Unterscheidung von Rationalismus und Empirismus ist mittlerweile klar, dass Kant (wie andere auch) durchaus 'produktiv' mit den gelesenen Texten umging, was eine kritische Nachprüfung durchaus nahelegt.
Und auch in den so genannten 'Spinoza-Streit' über Lessings (und den generellen) Umgang mit Spinozas Philosophie, der mit Jacobis 'Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn' begann, schaltete sich Mendelssohn ein; auch wenn die entscheidende Schrift zur Verteidigung Lessings vor Jacobis Atheismus-Vorwurf, 'An die Freunde Lessings' (Band II, S: 335ff.), erst 1786 und damit posthum erschien.
Es ließen sich weitere Beispiele anführen, die zeigen, dass Mendelssohn an vielen Punkten durch seine Schriften zeitgenössische Debatten prägte und dass diese von anderen Autoren durchaus als Fixpunkte zur eigenen Verortung im jeweiligen Diskurs wahrgenommen und genutzt wurden. Dass man darüber hinaus mit Mendelssohn einen jener Autoren vor sich hat, der auch persönlich für den Beginn der selbstbewussten Emanzipation und Selbstaufklärung des europäischen Judentums bei gleichzeitigem Bekenntnis zu selbigem stand und steht, muss sicherlich nicht gesondert erwähnt werden.
Die Kenntnis der wichtigsten Schriften Mendelssohns ist also für jeden hilfreich oder sogar erforderlich, der sich mit den Autoren oder Debatten im deutschen Sprachraum der Goethezeit auseinandersetzt. Und diese Kenntnisnahme, für die man bisher auf die Jubiläumsausgabe, Einzelausgaben oder vergriffene, deutlich weniger umfangreiche Textsammlungen angewiesen war, wird nun erleichtert durch die zweibändige Studienausgabe ausgewählter Werke Mendelssohns, verantwortet von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Grażyna Jurewicz, die den gesamten Bereich von Mendelssohns Interessen und schriftstellerischen Aktivitäten abdeckt.
Sie enthält die genannten und zahlreiche weitere Schriften in einer übersichtlichen, handwerklich sauber gemachten Ausgabe. Dabei wird die Original-Paginierung wie auch die Seitenzählung der Jubiläums-Ausgabe angegeben, was die Zitation ohne größere Probleme ermöglicht. Darüber hinaus ist jeder Text mit einer kurzen Einleitung versehen, die sowohl die historische Einordnung wie auch die Kernthese(n) der jeweiligen Schrift knapp und präzise anführt.
Grundsätzlich gibt es an der Ausgabe nichts zu bemängeln, die nötigen Kommentare zur Einordnung der Schriften leisten die Einleitungen und der Satz ist für eine Studienausgabe, die ja der Arbeit mit den Texten dienen soll, durchaus angemessen. Hilfreich wären neben dem Personenregister allerdings Sach- wie Begriffsregister gewesen. In jedem Fall findet derjenige, der sich einen etwas gründlicheren Überblick über Moses Mendelssohns Werk verschaffen möchte, in dieser Ausgabe einen durchweg guten und für die wissenschaftliche Arbeit mehr als nur hilfreichen Einstieg.