Der hier anzuzeigende, recht schmale Band geht auf eine in Mainz organisierte Vortragsreihe zurück. Ziel war es, anhand von historischen Ereignissen, die als 'Weichenstellungen' identifiziert werden, Problemzusammenhänge der jüngeren deutschen Geschichte vorzustellen und zu analysieren. Der Vortrags- und Essaycharakter der verschiedenen Beiträge bleibt dabei erhalten. Dies wirkt sich vorteilhaft aus, denn allen Texten ist eine anregende intellektuelle Lebendigkeit gemein, nicht zuletzt weil durchweg weiterführende Fragestellungen und zumeist auch Forschungsdesiderata angesprochen werden.
Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung zurecht betonen, geht es nicht zuletzt darum, sowohl neue als auch 'klassische' Frage an die Geschichte der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen zu stellen, wobei der Band belegt, dass die historiographischen Frontstellungen der 1970er und 1980er Jahre produktiv überwunden werden können bzw. worden sind.
Michael Kißener geht in seinem Beitrag nicht direkt von einem 'Ereignis' aus, wenn er die Westbindung der 1950er Jahre einordnet. Dass die Feststellung, es handele sich um eine entscheidende 'Weichenstellung' der Geschichte der Bundesrepublik, gleichsam trivial daherkommt, zeigt für Kißener, wie schnell, allzu schnell man versucht ist, in der Rückschau auf diese erfolgreiche Entwicklung eine unzulässige Zwangsläufigkeit und Geradlinigkeit auszumachen.
Joachim Scholtyseck zeichnet in seinem Beitrag zum Mauerbau 1961 nicht nur die Entscheidungsprozesse (vor allem) seit 1958 nach, sondern problematisiert die zeitgenössischen Beurteilungen politischer und gesellschaftlicher Natur am Beispiel der Entspannungspolitik nach der 'Zementierung der deutschen Teilung'. Jan Kusber versucht eine historische Einordnung der 'Ostverträge' (1970/72), die er als 'folgerichtige Ergänzung der Westintegration' Adenauers schildert.
Die Veränderungen der Wirtschaftspolitik, aber auch von dahinter stehenden Gesellschaftskonzeptionen analysiert Tim Schanetzky in seinem Beitrag zum Ölpreisschock von 1973 und seinen Folgen, darin wird besonders die damalige Ernüchterung über das 'Versagen' (keynesianischer) Steuerungspolitik deutlich.
Mit den Kontroversen um den 'NATO-Doppelbeschluss' nimmt Harald Biermann neben den bundesrepublikanischen Debatten das Gewicht Europas (und seiner Bevölkerung) in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten in den Blick und kommt zu einem ernüchternden Fazit.
Andreas Rödders Beitrag zu den diplomatischen Etappen auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung belegt eindrucksvoll, wie spannend und lehrreich moderne Ereignisgeschichte sein kann.
Andreas Lutsch und David Schuman analysieren deutsche politische und verfassungsrechtliche Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Europäischen Union, wie sich seit dem Vertrag von Maastricht herausgebildet hat.
Helga Haftendorn zeichnet im ihrem Beitrag zur deutschen (Nicht-)Beteiligung an militärischen Lösungsversuchen internationaler Konflikte seit den 1990er Jahren das Bild einer 'zaghaften Macht'. Deutschland scheint auf der internationalen Bühne immer auf der Suche nach seiner Rolle, wobei die Frage nach einer stärkeren internationalen Verantwortung wohl noch länger Gegenstand von Diskussionen bleiben wird.
Die Dokumentation einer Podiumsdiskussion mit Otto Depenheuer, Peter Struck und Herfried Münkler und Peter Voß schließt den Band. Darin geht es um eine Bestandsaufnahme der Rolle Deutschlands in einer immer unübersichtlicheren Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Nationale Interessen, internationale Solidarität und Strategie stehen dabei ebenso im Mittelpunkt wie die europäische Integration, wobei trotz der Betonung der Erfolge das Demokratie- und Legitimationsdefizit problematisiert werden.
Der Band ist letztlich ein Lesebuch im besten Sinn: wer bestimmte Ereigniszusammenhänge auf dem neusten Stand der Forschung verfolgen will, kommt genau so auf seine Kosten, wie derjenige der Analysen sucht, an denen man sich teilweise durchaus reiben kann.