Die nun in überarbeiteter Form publizierte Münchener Dissertation von Stephan Lehnstaedt, inzwischen Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, lenkt den Blick auf ein Thema, das bislang in der Forschung in Ost und West nur am Rande berücksichtigt worden ist. Nachdem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe von Studien zur nationalsozialistischen Besatzungspolitik und speziell zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Polen und Weißrussland erschienen sind, widmet sich Lehnstaedt darauf aufbauend dem Alltag der Besatzer und den Wechselbeziehungen zwischen Besatzern und Besetzten in Warschau und in Minsk.
Bei einem solchen Ansatz ist Lehnstaedt in hohem Maße auf Quellen jenseits der Behördenüberlieferungen angewiesen, steht jedoch vor dem Problem, dass nur wenige Ego-Dokumente wie Tagebücher und Briefe ediert oder in den Archiven vorliegen. Einen Ausweg bieten Akten, die schon für andere Epochen und Themen für alltags- und sozialgeschichtliche Fragestellungen fruchtbar gemacht wurden. Hier kann Lehnstaedt auf umfangreiche Akten des Sondergerichts Warschau und vor allem auch auf Zeugenaussagen aus den Ermittlungsverfahren der Justiz nach 1945 zurückgreifen, deren Nutzen er für seinen Ansatz bereits an anderer Stelle plausibel nachweisen konnte.
In einem Überblick stellt Lehnstaedt zunächst die verschiedenen Gruppen deutscher Besatzer und ihre verschiedenen Motivationen für einen Dienst 'im Osten' vor: Wehrmacht, SS, Polizei, Verwaltung, reichsdeutsche und auch die bislang kaum erforschten volksdeutschen Zivilisten. Der Frage nach dem Verhältnis von Handlungsfreiheit und Fremdbestimmung sowie dem Selbstbild und abweichendem Verhalten widmet sich Lehnstaedt in den beiden folgenden Kapiteln. Dabei arbeitet er die Durchdringung von Dienst und Freizeit heraus, das ausgeprägte Kameradschaftsgefühl innerhalb der einzelnen Besatzergruppen, das mit einem hohen Selbstdisziplinierungspotential einherging, sowie den relativen Luxus, in dem sie auf Kosten der weitgehend rechtlosen Bevölkerung schwelgten. Der auch im Alltag stark präsenten Gewalt geht er in einem eigenen Kapitel nach. Hier gelingt ihm ein überzeugender Nachweis für die hohe Gewaltakzeptanz innerhalb der Besatzergesellschaft(en), die nicht zuletzt auf dem Überlegenheitsgefühl und Herrenmenschenhabitus der Besatzer fußte.
Lehnstaedts Studie ist eine fundierte und differenzierte Grundlagenarbeit über den Alltag der überwiegend recht jungen und männlichen deutschen Besatzer 'im Osten', die keinesfalls eine homogene Gruppe waren, sondern in rivalisierende Fraktionen zerfielen. Gleichwohl kennzeichnete die meisten von ihnen eine Neigung zum Herrenmenschentum und gewalttätig ausgelebten Vorurteilen gegen die besetzte Bevölkerung. Ob und in welchem Maße dies auch für andere Regionen des deutsch besetzten Europas gilt, etwa für die westeuropäischen oder südosteuropäischen Länder, ist eine Frage, die zukünftige Forschungen hoffentlich aufgreifen werden.