Nach vielen Erinnerungsberichten, Quelleneditionen und Forschungsarbeiten zum Getto Lodz/Litzmannstadt, die in den letzten Jahren erschienen sind, liegt mit dem Erinnerungsbericht von Anatol Chari erstmals ein ausführliches Zeugnis eines Angehörigen der jüdischen Polizei aus demjenigen Getto vor, das am längsten, bis zum Sommer 1944, existierte. Chari schrieb seinen Bericht nicht wie etwa Calel Perechodnik seinen über seine Zeit als Ordnungsdienstmann in einer polnischen Kleinstadt noch während der deutschen Besatzung in einem Versteck, sondern Jahrzehnte später mit Hilfe von Timothy Braatz.
Chari war sechzehn, als die Deutschen in Lodz einmarschierten, und erfuhr bereits nach wenigen Tagen, was das bedeutete: Sein Vater, ein wohlhabender, politisch aktiver und sozial engagierter Geschäftsmann wurde verhaftet. Er sollte ihn nicht mehr wiedersehen, doch profitierte er von dessen Mitarbeit in der jüdischen Gemeinde und seinem hohen Ansehen. Es war vor allem dieser Umstand, der Chari schließlich im Sommer 1942 als Mitglied des Sonderkommandos Teil der jüdischen Verwaltung werden ließ. Dies bedeutete zunächst Sicherheit vor den ab Anfang 1942 ins Vernichtungslager Kulmhof fahrenden Deportationszügen aus dem Getto und vor allem eine weitaus bessere Versorgung für sich und seine Großeltern. Das schildert er unverblümt, ohne etwas zu beschönigen: 'Wir hatten eine ausgesprochen privilegierte Stellung. (...) Im Getto, wo jeder ein Niemand war, stellten wir etwas dar. Wir konnten Geschäfte betreten, die für die Allgemeinheit tabu waren. Wir bekamen besondere Lebensmittelkarten, die uns größere Rationen sowie Nahrungsmittel von besserer Qualität bescherten (...). Meine Großeltern und ich hatten immer genug zu essen.' (S. 50) Die besondere Stellung verschaffte ihm und seiner Familie damit nicht nur weitaus bessere Lebensbedingungen im Getto selbst, sondern war wesentlicher Grund dafür, dass sie auch in Auschwitz, wohin die Bewohner des Gettos im Sommer 1944 deportiert wurden, erheblich günstigere Überlebenschancen hatten, so dass auch seine Großeltern trotz ihres hohen Alters das Lager überleben konnten.
Charis Bericht ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Zeugnis der späten Holocaustliteratur. Es ist nicht nur der Umstand, dass hier ein Privilegierter, ein Mitglied der Gettoelite berichtet. Vor allem die Art, wie und auch was er erzählt, macht das Buch zu einem besonderen. In einer einfachen, damit umso eindringlicheren Sprache, mit Witz, Ironie und Sarkasmus scheut Chari nicht vor Tabus und Schonungslosigkeit in der Bewertung seines eigenen Handelns oder Unterlassens zurück. Wer glaubt, dass die Holocaustliteratur unserer Tage nach so vielen Jahren intensiver Forschung und so vielen bereits publizierten Berichten nichts Neues mehr zu bringen vermag, der wird spätestens durch das Buch von Anatol Chari eines Besseren belehrt.