Best of Jonas Überohr
Popkritik 1966-1982

Unter dem Pseudonym 'Jonas Überohr'  schrieb der Autor und Literaturkritiker Helmut Salzinger (1935-1993) Anfang der 70er Jahre eine regelmäßige Kolumne im Musikmagazin 'Sounds' . Salzinger gehört zu den Begründern der deutschsprachigen Popkritik. In der 'Fundus' -Reihe des Hamburger Verlags Philo Fine Arts ist nun 'Best of Jonas Überohr'  erschienen, eine chronologisch geordnete Sammlung von Salzinger-Texten, 42 Essays, Konzertberichte sowie Buch- und Plattenrezensionen aus 16 Jahren, herausgegeben von Frank Schäfer.

Wer war dieser Salzinger? Zunächst ein studierter Germanist, der seine akademische Laufbahn mit einer Promotion über den Kritiker und Essayisten Eugen Gottlob Winkler abgeschlossen hatte. Schon zuvor '  wohlgemerkt mit Anfang Zwanzig '  hatte Salzinger begonnen, Buchkritiken für verschiedene Rundfunkanstalten und Zeitungen zu schreiben. Mit diesen Arbeiten konnte er sich eine Stellung als freier Mitarbeiter der Hamburger Wochenzeitung 'DIE ZEIT'  sichern. Als Literaturkritiker erlangte Salzinger schnell Einfluss, beispielsweise gehörte er zu den Entdeckern und frühen Förderern Walter Kempowskis. Davon abgesehen war er ein engagierter Linker, verpflichtet insbesondere dem Werk Walter Benjamins, kein dogmatischer Marxist, sondern ein Anhänger der hedonistischen Strömung. Dementsprechend vertrat er die Meinung, dass die Revolution zuerst beim einzelnen Menschen anzusetzen habe und nur durch eine allmähliche Unterminierung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung, zuallererst der bürgerlichen Kultur, vonstattengehen müsse. Weit fortgeschritten schien ihm dieser Unterwanderungsprozess in den Vereinigten Staaten, wo es 'kein jahrtausendealtes Kulturerbe zu verwalten'  gab (S.12).

Vor diesem Hintergrund müssen die ersten Texte des Bandes gelesen werden, zwei Berichte über die ersten Pop-Art-Ausstellungen, die Mitte der sechziger in der Bundesrepublik gezeigt wurden. Während Installationen wie Andy Warhols 'Kühe und schwebende Kissen'  damals noch überwiegend Unverständnis und Heiterkeit hervorriefen, feierte Salzinger sie als Vorboten der bevorstehenden Kulturrevolution. Als besonders strukturkonservative Kunstform betrachtete Salzinger die Literatur. In seinem Essay 'Litrischer'  [sic!] (vgl. S.177ff.) plädierte er gerade in diesem Bereich für Experimente und Grenzüberschreitungen, etwa in Richtung einer 'akustischen Literatur' . Mit derart avantgardistischen Forderungen konnten die damaligen Kulturschaffenden, allen voran die Literaturkritiker, freilich wenig anfangen. Einem Meinungsführer der Zunft, seinem 'ZEIT' -Kollegen Marcel Reich-Ranicki, der besonders heftig gegen die 'ewigen Bastler'  (S.43) und 'Jongleure des Abstrakten'  (ebd.) zu Felde zog, bedachte Salzinger mit einer scharfen Polemik (vgl. S.41ff.). Wie man es besser machen konnte, zeigten seiner Meinung nach einmal mehr Beispiele aus den Vereinigten Staaten: Als lobenswerten Versuch, die Literatur für neue Einflüsse zu öffnen, würdigte Salzinger u.a. das Genre der 'non-fiction novel' , vor allem natürlich Truman Capotes 'Kaltblütig' . Die Besprechung des Romans (vgl. S. 23ff) ist besonders lesenswert, eine virtuose Verbindung von Literatur- und Gesellschaftskritik.

Eine zunehmende Beeinflussung der Literatur durch die Pop-Kultur glaubte Salzinger u.a. an Tom Wolfes Reportageband 'Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby'  festmachen zu können, der 1968 in deutscher Übersetzung erschien (vgl. S.57ff.). Texte wie dieser ermutigten auch junge deutschsprachige Autoren zur Erprobung neuer Schreibstile.

Die Entstehung der westdeutschen Underground-Literatur verfolgte Helmut Salzinger aufmerksam, in 'Best of Jonas Überohr'  sind mehrere Rezensionen zu den Werken Rolf Dieter Brinkmanns und Hubert Fichtes zu finden. Sie sind lesenswert für jeden, der sich mit der frühen Popliteratur und ihrer Rezeption in der Bundesrepublik beschäftigt. Die wichtigste Ausdrucksform der 'Counterculture'  aber war zweifelsohne die Musik, insbesondere Beat und Rock. Offensichtlich war die Pop-Musik in der Lage, junge Menschen zu mobilisieren, insbesondere diejenigen, die nicht mehr den Idealen ihrer Eltern folgen, sondern alternative Lebensformen erproben wollten. Nach den Festivals von Monterey und Woodstock sah es für eine kurze Zeit tatsächlich so aus, als könnten die 'Hippies'  eine internationale Massenbewegung bilden und womöglich auch zur Avantgarde gesellschaftlicher Veränderungen werden. Das Thema Pop-Musik war somit hochpolitisch, eine intensivere (auch theoretisch fundierte) Auseinandersetzung schien vonnöten. Gegen Ende der 60er Jahre wandte Salzinger sich daher verstärkt Konzertberichten und Plattenrezensionen zu, mit seinen Artikeln wurde er zu einer zentralen Instanz innerhalb der Gegenkultur, die er zugleich aber auch den Lesern des etablierten Feuilletons vorstellen wollte. Einige von Salzingers Pop-Musik-Texten, unter anderem über Bob Dylan, Frank Zappa und 'The Greatful Dead' , hat Frank Schäfer in seine Edition aufgenommen.

Um sich auch persönlich ein Bild zu machen, besuchte der 'ZEIT' -Kritiker im Juli 1969 ein 'Free-Concert'  der 'Rolling Stones'  im Londoner Hyde Park, der dazugehörige Augenzeugenbericht, 'Vorläufig Sympathie für den Teufel'  (vgl. S. 93ff.), gehört zu den Klassikern unter den Salzinger-Texten. Bei der Lektüre kann der Eindruck entstehen, die Revolution habe bereits gesiegt, die knapp 200.000 Konzertteilnehmer erschienen dort als 'die freiesten Menschen, die man heute auf dem Erdball finden kann'  (S.95). Diese Einschätzung war freilich übertrieben, letztlich versank die Alternativkultur in einem Sumpf aus Drogen und Gewalt, auf den 'Stones' -Triumph in London folgte das 'Stones' -Desaster von Altamont. Nicht zuletzt ging die 'Gegenkultur'  aber auch an ihrer fortschreitenden Kommerzialisierung zugrunde. Ein Beispiel für den zunehmenden Ausverkauf gab das 'Love-and-Peace-Festival'  auf der Ostseeinsel Fehmarn. Das grandiose Scheitern des Versuchs, Profit aus einem 'deutschen Woodstock'  zu schlagen, hatte Helmut Salzinger ebenfalls 'live'  verfolgt, sein Erfahrungsbericht trägt den dem bezeichnenden Titel 'Love and Peace und Gummiknüppel'  (vgl. S.155ff.).

Kein Zweifel, in den vorliegenden Texten spiegeln sich die Hoffnungen der 60er Jahre in gleichem Maße wider wie ihre Illusionen und Irrtümer. So mag der Glaube, Erzeugnisse der Popkultur könnten eine revolutionäre Kraft entfalten, die Nachgeborenen zum Schmunzeln veranlassen. Dennoch ist beeindruckend zu verfolgen, wie Salzinger Songtexte, Plattencover und Rockstarposen mit den Instrumenten der Kritischen Theorie analysierte und auf subversives Potential überprüfte. Andere zeittypische Positionen sind aus heutiger Sicht eher fragwürdig, etwa Salzingers sorglos-unkritische Einstellung zu bewusstseinserweiternden Drogen, die etwa in der Rezension zu Timothy Learys 'Politik der Ekstase'  (vgl. S.171ff) zum Ausdruck kommt. Lesenswert sind die Texte in jedem Fall, allein schon aufgrund ihrer intellektuellen und literarischen Qualität.

Sein Rang als Literaturkritiker, sein unumstrittenes Können, dürfte die Tatsache erklären, dass es Helmut Salzinger immer wieder gelang, seine subversiven Botschaften in der 'ZEIT'  zu platzieren, einer Bastion jenes bürgerlichen Kulturbetriebs, gegen den er mit seinen Texten anschrieb. Man kann das als privaten Unterwanderungsversuch deuten, der freilich zum Scheitern verurteilt war. Nach jahrelangen Spannungen vollzogen Salzinger und der Feuilletonchef der 'ZEIT' , Rudolf Walter Leonhardt, 1970 schließlich die Trennung. Eine neue Publikationsmöglichkeit bot das Musikmagazin 'Sounds' , wo zwischen 1973 und 1975 die 'Überohr' -Kolumne erschien. Auch diese Phase ist im Sammelband bestens dokumentiert, die Texte sind von nostalgischen Rückblicken und zunehmender Desillusionierung geprägt. Eine vergleichbare Stimmung war auch in der Szene selbst festzustellen, Aufbruchsstimmung und Experimentierfreudigkeit hatten dort einem harten Realismus Platz gemacht. Dazu passt der Umstand, dass etwa zeitgleich Charles Bukowski zur Underground-Ikone avancierte '  auch er übrigens eine Salzinger-'Entdeckung' . An ein Bukowski-Zitat ist denn auch das 'Traktat über Kacke'  (vgl. S. 277ff.) angelehnt, ein melancholischer Abschied von der Hoffnung auf Revolutionen und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Für die westdeutsche Linke hatte Salzinger sich damit endgültig als Reaktionär enttarnt, schon zuvor war es zu heftigen Anfeindungen gekommen, weil er es in seiner 'Überohr' -Kolumne gewagt hatte, kritisch Stellung zu den Aktionen der RAF zu nehmen ('Die Bundesbande' , vgl. S. 265ff.). Auf diese Weise zwischen die Fronten geraten '  ausgeschlossen von den Bürgerlichen, angefeindet von den Linken '  zog Salzinger sich endgültig in die niedersächsische Provinz zurück, wo er bereits Ende der 60er Jahre sesshaft geworden war.
Helmut Salzinger ist in den letzten Jahren etwas aus dem Blickfeld geraten. Zumindest sind seine wichtigsten Bücher, 'Rock Power'  (1972) 'Swinging Benjamin'  (1973) und 'Rock um die Uhr'  (1982) nach wie vor nur antiquarisch zu haben, gleiches gilt für 'Jonas Überohr LIVE'  (1976), eine frühe Zusammenstellung der 'Sounds' -Kolumnen. Was bislang fehlte, war eine Sammlung, die Salzingers Werk in Gänze abbildet. Diese Lücke hat Frank Schäfer geschlossen. Der vorliegende Band liefert vor allem zwei Dinge: Eine fulminante Quelle zur Geschichte der Pop-Kultur und die beeindruckende Biografie eines kritischen Intellektuellen, zusammengefügt aus dessen Texten. Der Einsatz des Herausgebers verdient höchstes Lob: In seinem Nachwort berichtet Frank Schäfer, er habe bei der Lektüre eines unveröffentlichten Salzinger-Manuskripts, das er im Nachlass fand (und das eine wichtige Grundlage zum vorliegenden Band lieferte), erstmals nachvollziehen können, wie sich 'ein Goldgräber am Klondike gefühlt haben [muss], der auf eine Goldader gestoßen ist'  (S. 388). Die gleiche Erfahrung wird jeder machen, der 'Best of Jonas Überohr'  zur Hand nimmt.