Walter Kempowski
Bücher und Begegnungen

Volker Hage ist Kulturredakteur beim Hamburger Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel'. Er gilt als einer der renommiertesten Literaturkritiker Deutschlands. In seinem kürzlich erschienenen Buch 'Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen' präsentiert Hage 17 Essays, Interviews und Rezensionen, die er im Verlauf von 35 Jahren zu Kempowski veröffentlicht hat.
Wie man Hages instruktivem Vorwort entnehmen kann, fand seine erste Begegnung mit Walter Kempowski im Dezember 1971 statt. Damals standen beide Protagonisten noch am Anfang ihrer Karriere: Volker Hage, Anfang zwanzig und Student der Germanistik, machte auf Kempowski sogar einen derart jugendlichen Eindruck, dass dieser ihn für den Vertreter einer Schülerzeitung hielt und jeden Interviewwunsch brüsk zurückwies. Das Gespräch kam schließlich doch zustande ('Eine Art Gedächtnistraining', 1972 veröffentlicht in den 'Akzenten'). Es steht am Beginn der anzuzeigenden Textsammlung und ist unverzichtbar für jeden, der sich eigehender mit dem Thema Kempowski auseinandersetzen will. Vor allem erhält der Leser dort interessante produktionsästhetische Einblicke: Im Gespräch mit Hage ging Kempowski detailliert auf literarische Vorbilder ein, beschrieb die einzelnen Etappen seiner Schriftstellerkarriere und gab Auskunft über seine Arbeitsmethode, letzteres allerdings nur mit Widerwillen, weil man ihn schon damals allzu sehr auf die Verwendung von Zettelkästen reduzierte. Das Interview sollte man mit einem Gespräch aus dem Jahr 1981 ('Der Erfolg ist ein Glücksfall') vergleichen, das im 5. Kapitel zu finden ist. Interessant ist beispielsweise die Tatsache, dass der 'frühe Kempowski' die Frage, ob sein Erfolgsroman 'Tadellöser und Wolff' nicht auch als rührseliges Erinnerungsbuch missverstanden werden könne, noch vehement verneinte. Neun Jahre ließ er diesen Einwand im Hinblick auf den Roman sogar gelten (S. 69), zur Absicherung und Multiperspektivierung der 'Deutschen Chronik' waren mittlerweile allerdings die drei Befragungsbücher erschienen. Mit dem letzten dieser Bücher, dem Holocaust-Befragungsband 'Haben Sie davon gewusst?', setzte Volker Hage sich 1979 für die 'FAZ' auseinander. Die fragliche Rezension wurde ebenfalls in die nun vorliegende Sammlung aufgenommen. Dem ersten Interview folgt eine Besprechung des Bautzen-Romans 'Ein Kapitel für sich', die 1975 ebenfalls in der 'FAZ' veröffentlicht wurde. Sie enthielt auch einige kritische Bemerkungen, die Hage später selbst als 'recht kleinliche und klischeehafte Einwände' (S. 13) empfand. Die Rezension führte denn auch zu leichten Spannungen mit Kempowski, die aber nicht von Dauer waren. Zum Gesamtkomplex der 'Chronik' gehört auch Volker Hages wohlwollende Besprechung des Romans 'Aus großer Zeit' (1978). Diese Rezension sollte man wiederum zusammen mit dem Aufsatz 'Ein Fall von Philisterei' (S. 77-88) lesen, mit dem der Kritiker energisch für Kempowski eintrat, als dieser sich während so genannten 'Wieser-Affäre' mit böswilligen Plagiatsvorwürfen konfrontiert sah.
Ein weiteres Interview ('Das hatte biblische Ausmaße') und ein Aufsatz ('Vom jähen Ende der Kindheit') beschäftigen sich mit dem Thema Luftkrieg im Werk Walter Kempowskis. In die Darstellung werden die Thesen W. G. Sebalds einbezogen, der 1997 im Rahmen seiner Zürcher Poetikvorlesungen bekanntlich von einer weitgehenden Tabuisierung des Bombenkriegs in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ausgegangen war. Volker Hage hielt diese These für abwegig, wobei er sich u.a. auf Walter Kempowski berief, der die Angriffe auf Rostock schon 1971 im 'Tadellöser' geschildert hatte. Dem Gespräch mit Kempowski lässt sich entnehmen, dass der Autor die fraglichen Passagen im Nachhinein allerdings selbst nicht mehr gerne las. Für seine Generation, die 'Flakhelfer', blieben die Bombardements gleichwohl eine traumatische Erfahrung. Aus diesem Grund kam der Schriftsteller in seinem späteren Werk immer wieder auf die Thematik zurück, nicht zuletzt in der monumentalen Geschichtscollage 'Echolot', die im Buch ebenfalls ausführlich besprochen wird. Volker Hage gehörte zu den ersten Feuilletonisten, die den Stellenwert des Werks erkannten und sich dafür einsetzten. Er sorgte dafür, dass 'Echolot'-Auszüge schon Ende 1992 im 'Spiegel' erscheinen konnten. Der Artikel, mit dem der Kritiker den Vorabdruck seinerzeit einleitete ('Der Herr der Tagebücher'), ist ebenfalls in 'Bücher und Begegnungen' zu finden. In seinem Artikel wagte Hage die Prognose, das 'Echolot' werde sich vielleicht als 'eines der letzten großen literarischen Wagnisse dieses Jahrhunderts erweisen' (S. 91). Damit sollte er Recht behalten. Angesichts des enormen Erfolgs ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Volker Hage sich 2005 wieder zu Wort meldete, als mit dem einbändigen 'Abgesang 45' der Schlussstein zum 'Echolot' gesetzt und zeitgleich auch noch das Werketagebuch 'Culpa' veröffentlicht wurde.
Auch die dritte große Säule des kempowskischen Werkes wird im Buch porträtiert: die literarischen Tagebücher. Der erste Text zu diesem Komplex, 'Ein Etüdenspiel' (S. 105-107), wurde 1994 in einem 'Spiegel-Spezial' zum Thema Tagebuch veröffentlicht. Walter Kempowski offenbarte sich dort als geradezu besessener Tagebuchschreiber, auch sein berühmtes Urteil über Kollegen, die diese Begeisterung nicht teilen ('irgendwie schief gewickelt', S. 107), ist an dieser Stelle zu finden. Ergänzt werden die Aussagen durch eine Rezension zu 'Hamit' (2006), dem letzten Kempowski-Diarium, das noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Zwischen die großen thematischen Blöcke wurden drei kleinere Zwischentexte eingefügt. Dabei handelt es sich um Kempowskis Antworten auf Kurzumfragen, darunter auch der berühmte 'FAZ'-Fragebogen, in dem der Schriftsteller auf die Frage, welche historische Gestalt er am meisten verachte, Ludwig den Frommen anführte (freilich mit dem Zusatz 'und andere', den man nicht unterschlagen sollte). Hages einfühlsamer Nachruf 'Der Volksdichter' (S. 153-155) beschließt den Band.
Zu den einzelnen Werken Walter Kempowskis könnte man natürlich auch andere Stellungnahmen zusammentragen. 'Bücher und Begegnungen' stellt nur eine Perspektive auf den Nartumer Erfolgsschriftsteller vor, allerdings eine zentrale. Mit dem vorangegangenen Überblick konnte hoffentlich verdeutlicht werden, dass der Vorteil des Buchs in der Vielfalt der darin versammelten Texte liegt. Hinzu kommt die Tatsache, dass das Buch immerhin einen Zeitraum von 35 Jahren abbildet. Auf diesem Weg ist es tatsächlich möglich, ein Gesamtwerk zu besichtigen, die wesentlichen Etappen seiner Entwicklung werden nachvollziehbar. Kurzum: Mit 'Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen' hat Volker Hage ein ausgezeichnetes Kompendium zur Kempowski-Philologie vorgelegt, dessen Wert weit über die Tatsache hinausgeht, dass man sich die fraglichen Artikel nun nicht mehr selbst zusammensuchen muss. Das Buch eignet sich hervorragend als Begleit- und Ergänzungslektüre zu den Standardwerken von Carla Damiano, Manfred Dierks oder Dirk Hempel. Angesichts der zahlreichen Vorzüge ist auch die Tatsache verzeihlich, dass Kempowskis Vater im biografischen Anhang ein falscher Vorname angedichtet wird ('Karl Walter' statt 'Karl Georg').