"Notstandsgesetze von Deiner Hand"
Briefe 1968/69

Die Historisierung der linksterroristischen 'Roten Armee Fraktion' (RAF) hat im zurückliegenden Jahrzehnt einen deutlichen Schub erhalten. Auffällig war dabei u.a. die Tendenz, die Geschichte der Terrorgruppe als Personen- und Generationengeschichte zu schreiben. Vor allem in der Jugend der beteiligten Akteure glaubte man eine 'formative Phase' des deutschen Terrorismus erkennen und Erklärungen für die späteren Taten finden zu können. Im Zentrum dieses Ansatzes standen und stehen nicht zuletzt Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Bereits 2003 hat der Historiker Gerd Koenen sich mit dem Duo auseinandergesetzt und darauf verwiesen, dass in die Klärung dieses Verhältnisses noch eine dritte Person einzubeziehen ist: Bernward Vesper, der Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper. Als Verleger der 'Edition Voltaire' wurde Vesper zu einem wichtigen Sprachrohr der 68er-Bewegung. Mit dem Romanfragment 'Die Reise' (1977 posthum veröffentlicht) hinterließ er zudem einen Schlüsseltext zum Verständnis seiner Generation. Mit Bernward Vesper war Gudrun Ensslin liiert, bevor sie Baader im Sommer 1967 kennenlernte. Das Paar hatte sich 1965 sogar verlobt, zwei Jahre später kam ihr gemeinsamer Sohn Felix Robert zur Welt. In Vespers 'Frankfurter Nachlass' haben sich die Briefe erhalten, die er 1968/1969 mit seiner Ex-Verlobten austauschte. Ensslin war zu diesem Zeitpunkt bereits im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim inhaftiert, wo sie auf den Beginn ihres Prozesses wartete. Gemeinsam mit Andreas Baader und zwei weiteren Mittätern hatte sie Anfang April 1968 Brandanschläge auf zwei Kaufhäuser in der Frankfurter Innenstadt verübt, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Unter dem Titel 'Notstandsgesetze von Deiner Hand' ' diesen Titel hat Vesper der Korrespondenz selbst gegeben ' sind die 80 Briefe nun in der Edition Suhrkamp erschienen, herausgegeben und kommentiert von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier.

Folgt man dem Klappentext, besteht der Stellenwert des anzuzeigenden Bandes vor allem darin, 'nach allen Glorifizierungen und Pathologisierungen, Verfilmungen und Deutungen' die Möglichkeit zu bieten, sich 'am Original ein eigenes Urteil zu bilden'. Dieser Ansatz erscheint zunächst verdienstvoll. Allerdings wird er gleich im Anschluss durch die Einschätzung konterkariert, bei dem Briefwechsel handele sich um einen 'tragischen Liebes-Brief-Roman'. Das wäre dann doch eine trivialisierende Lesart. Nüchtern betrachtet bildet 'Notstandsgesetze von Deiner Hand' zwei Prozesse ab: Erstens die endgültige Trennung von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin, die mangels vorheriger Gelegenheiten schriftlich vonstattengehen musste, und zweitens (und damit zusammenhängend) den Sorgerechtstreit, der zwischen den beiden bald entbrannte und der im Juni 1969 schließlich zum Abbruch der Kommunikation führte. Liebe wird im Verlauf dieser Korrespondenz nur einer Person zuteil: dem gemeinsamen Sohn Felix, der zum Zeitpunkt der Verhaftung seiner Mutter gerade einmal 11 Monate alt war. In den Briefen wird er von seinen Eltern mit skurrilen Kosenamen wie 'Schnuffel-Puffel' (S. 105), 'Peusche-Meusche' (S.58) 'FelixFelix, de[r] Gangster' (S. 105) oder 'le petit monstre' (S.109) überhäuft. Aus den Briefen geht hervor, dass Bernward Vesper eine Zeit lang redlich bemüht war, Felix' Versorgung trotz aller Widrigkeiten sicherzustellen. Ihm bereitete es sichtlich Freude, seine frühere Lebensgefährtin mit Fotos und Berichten über die Entwicklung des Kindes zu versorgen. An diesen Stellen sind Vespers Briefe auch literarisch eindrucksvoll. Gudrun Ensslin wiederum nahm die Schilderungen begierig auf, aus der Haft ließ sie ihrem Sohn Geschenke wie ein selbstgestricktes 'himbeerrotes Pulloverding' (S. 129) oder ein selbstgemaltes Bild zukommen ('DIE MAMA KANN SO schlecht zeichnen, Hilfe Hilfe!', S. 198). Weiterhin wird in Ensslins Briefen deutlich, wie sehr sie sich offensichtlich nach ihrem Kind sehnte: 'Auf dem einen Foto ist die Stelle Hals-Kuhle drauf, ich riech' sie und schmeck' sie noch an meiner Schnauze, Haut-und-Haar, Buddha-Geruch, he, monsieur monstre, ich vergeß das nicht!' (S. 137). Solche Passagen müssen den Leser dann doch erschüttern, da ihm natürlich der weitere Verlauf der Ereignisse bekannt ist: Bernward Vesper beging zwei Jahre später Selbstmord, zermürbt von beruflichen und privaten Rückschlägen, von exzessivem Drogenkonsum und zwei Psychiatrieaufenthalten. Gudrun Ensslin kehrte trotz gegenteiliger Bekundungen nicht mehr zu ihrem Kind zurück. Stattdessen trat sie den Weg in den 'bewaffneten Kampf' an, der 1977 mit ihrem Selbstmord in der JVA Stuttgart-Stammheim endete.

Gerade unter Berücksichtigung dieses Endes wird klar, dass die vorliegenden Briefe auch Protokolle eines großangelegten Selbstbetrugs sind. Die Zerrissenheit, die sowohl Bernward Vesper als auch Gudrun Ensslin von Biografen immer wieder attestiert wurde, tritt im Buch vor allem an zwei Stellen zutage: Im Falle Vespers handelt es sich um einen Brief, der 'Weihnachten 1968' datiert ist. Darin teilt er seiner Ex-Verlobten mit, dass die Verlagsarbeit ihm 'immer gleichgültiger werde' (S.193) und dass die Kraft, die er tagtäglich zur Betreuung seines Sohnes aufwenden muss, nicht mehr lange reichen werde. Dieser Hilferuf wurde nicht abgeschickt. Der Januscharakter Gudrun Ensslins wird durch einen Brief belegt, den sie im August 1968, also zeitgleich zur übrigen Korrespondenz, an den ebenfalls inhaftierten Andreas Baader ('die Anarchie in Person', S. 216) richtete. Dieser Zusatztext steht als Appendix am Schluss der eigentlichen Korrespondenz (S.263-273). Dabei handelt es sich zweifellos um den radikalsten Liebesbrief dieser Edition. Er ist geprägt von verwirrten Zuneigungsbekundungen, die in einem Bekenntnis zu Baaders Aktionismus gipfeln: 'Hell YES! Andreas, Praxis, Du sagst's!' (S. 273). Der Brief stützt die Vermutung, die Felix Ensslin, heute Professor an der Stuttgarter Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, in seiner Nachbemerkung (S. 281-290) äußert. Er geht davon aus, dass seine Mutter irgendwann in der Phase, die die vorliegende Korrespondenz abdeckt, mit ihrem bürgerlichen Alltagsleben abgeschlossen hat.
Was die vorliegenden Briefe darüber hinaus so wertvoll und lesenswert macht, ist die Vielzahl der darin enthaltenen Zitate, Personennamen, Buchtitel und Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse, die sich zu einem Panorama der westdeutschen, speziell der West-Berliner Linken in den späten sechziger Jahren zusammenfügen. Wer darin nach Stellen zum Verständnis der RAF sucht, wird fündig. Etwa in Gudruns Ensslins Brief vom 24. August 1968, in dem sie die Kaufhausbrandstiftung mit der Bemerkung rechtfertigt, dem europäischen Kampf um den Sozialismus habe bislang das 'wahnsinnige Element' (S. 131) gefehlt. Hier tritt schon das spätere Avantgarde-Denken der RAF zutage. Noch erhellender ist Bernward Vespers Nachbemerkung zu dem Schlusswort der Angeklagten im

Kaufhausbrandstifterprozess, die er als Voltaire Flugschrift Nr. 27 verlegte (S.161-170) und die als weiterer Zusatztext in die Korrespondenz eingefügt wurde. Darin drehte Vesper den Prozess um und klagte Richter und Staatsanwalt an. Sie galten ihm als Vertreter einer Generation, 'die es 1938 unterlassen hat, aus Protest gegen den Faschismus die Warenhäuser anzuzünden' (S. 161) und die mit Ensslin und ihren Mittätern nun gerade 'jene ins Zuchthaus schickte die ' Vietnam ist das Auschwitz der jungen Generation ' Kaufhäuser angesteckt hatten' (S.162). Damit umschrieb Vesper eine innerhalb der 68er-Bewegung weit verbreitete Tendenz, den Holocaust und den Vietnamkrieg der USA unter dem Etikett 'Verbrechen des Kapitalismus' zusammenzufassen und somit gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung diente dann zur Rechtfertigung von Gewaltakten. Bernward Vesper wähnte sich in diesem Zusammenhang bereits am Beginn einer Phase, 'in der die Gewalt der Herrschenden nicht mehr sprach- und tatenlos hingenommen, sondern auf allen Ebenen ihrem endlichen, längst überfälligen Ende entgegengeführt wird' (S. 170). Zum konkreten Ausmaß und zu den Grenzen dieser 'Gegengewalt' äußerte er sich nicht. Während Vesper es letztlich bei solchen Verbalradikalismen beließ, entschloss seine frühere Verlobte sich zum Handeln. Dieser Entschluss steht am Anfang einer Entwicklung, die bis 1998 62 Menschen das Leben kostete und die die 'alte' BRD zeitweise an den Rand des Ausnahmezustands brachte. Auch das gehört zum Kontext dieser Korrespondenz.

Um zu einem Fazit zu kommen: Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier haben die im Vesper-Nachlass enthaltenen Briefe zu einem ebenso spannenden wie aufschlussreichen Dialog zusammengefügt. Die Entscheidung, die beiden Zusatztexte in die Korrespondenz einzufügen, hat sich als gut und richtig erwiesen. Dadurch wird das ganze um wichtige Perspektiven erweitert. Anerkennung verdienen die Herausgeber zudem für die sorgsame Kommentierung des Textes, durch die der Inhalt der Briefe umfassend erläutert und kontextualisiert wird. Bei der Korrespondenz Ensslin-Vesper handelt es sich um ein zentrales zeit- und kulturgeschichtliches Dokument. Die Bezeichnung 'Liebes-Brief-Roman' wird dem allerdings in keiner Weise gerecht.